Zwischen den Jahren ist wieder einmal Sauregurkenzeit in den Medien und im Internet. Dass merkt man ganz besonders daran, dass gerade wieder einmal allerorten die verschwurbelten Theorien des Viktor Mayer-Schönberger diskutiert werden. So zum Beispiel in der Süddeutschen Zeitung und im Blog von Björn Sievers. Wir erinnern uns: Mayer-Schönberger hatte in seinem im Herbst erschienenen Buch gefordert, Dateien aller Art mit einem Verfallsdatum auszustatten, damit das Gedächtnis der Menschheit nicht unter der Datenflut zusammenbricht. Wie das zu bewerkstelligen ist, konnte der Autor allerdings bislang noch nicht so genau erläutern. Und wie es mit unausgereiften Ideen nun mal oft so ist, wurde der Gedanke auch gleich von der Politik dankbar aufgenommen.
Über Jahrtausende hinweg haben Menschen versucht, Wissen zu bewahren: Mit Höhlenmalereien, auf Keilschrifttafeln, in Stein gemeißelt, auf Pergament und Papier. Und bei all diesen Versuchen zeigte sich, dass nichts ewig währt. Regelmäßig wurde die konservierte Weltweisheit wieder von Erdbeben und Kriegen, von Fluten und Feuersbrünsten vernichtet. Und ausgerechnet jetzt glaubt man, dass unsere digitalen Daten dazu angetan sind, den Rest des Weltenlaufs unbeschadet zu überstehen? Heute, wo wir auf unsere 20 Jahre alten Daten schon nicht mehr zugreifen können, weil das damalige Betriebssystem nicht mehr existiert oder weil unser Rechner schlicht kein Diskettenlaufwerk mehr hat? Die Einschätzung Jeff Rothenbergs, eines ausgewiesenen Experten für die Lebenszyklen digitaler Daten, erscheint in diesem Zusammenhang doch weit realistischer:
Digital documents last forever – or five years, whichever comes first.
Erhalten wir also ruhig unsere Daten, denn verloren gehen sie schon von ganz allein. Und viel wichtiger erscheint es doch, dass wir Menschen uns in der Fähigkeit schulen, zu vergessen, zu verzeihen und noch auffindbare Informationen aus alten Zeiten immer wieder neu nach menschlichen Maßstäben zu bewerten. Auf einen wohl organisierten und fein ziselierten Kulturvandalismus, wie ihn Mayer-Schönberger und de Maizière fordern, können wir dann gut und gern verzichten.
Ergänzung am 5. Januar 2011
Das war ja fast zu erwarten: Inzwischen tutet Verbraucherschutzministerin Aigner ins gleiche Horn. Sie weiß sogar schon, dass deutsche Informatiker mittlerweile eine Art digitalen Radiergummi entwickelt haben, mit dem jeder seine Dateien und Bilder mit einem Verfallsdatum versehen kann, bevor er sie ins Internet stellt. Am 11. Januar soll er auf einer Konferenz des Ministeriums vorgestellt werden. Wir sind gespannt.
Disclaimer: Die Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. sollte man, was ihre technische Kompetenz anbelangt, niemals unterschätzen. Schließlich ist sie gelernte Radio-und Fernsehtechnikerin.
Sven
Ach ich glaube, dass die Idee von Dateien mit Verfallsdatum sicherlich von einigen Industrien sehr gerne aufgenommen würde, wenn sie sich durchsetzten ließe. Ich stelle mir gerade vor, wie ich nach einem Jahr (oder nach 3 Jahren) bei iTunes alle meine Songs erneut kaufen muss, weil ihr Verfallsdatum abgelaufen ist. Oder meine Filme. Oder bei Amazon meine ebooks.
… oder, oder, oder.
Im Zuge dessen hätte ich dann aber auch gerne eine Verfallszeit für Politiker, die derartigen BS fordern (nein, nicht die Wahl alle paar Jahre, sondern eine Verfallszeit, so dass sich die Gesichter einfach nicht wiederwählen lassen können).