Maria Antonie muss sich große Sorgen um ihr Nesthäkchen gemacht haben. Die Gräfin von Ingelheim genannt Echterin von und zu Mespelbrunn, eine geborene Gräfin von Westphalen zu Fürstenberg, ist mit ihrer 15-jährigen Tochter Isabella Felicitas nach Rom gepilgert. Wir schreiben das Jahr 1833, und Goethes Italienische Reise, die einige Zeit zuvor erschienen ist, hat dem Trend zu Pilgerreisen unter gebildeten Schichten noch einmal Schub verliehen. Doch dort, in der Heiligen Stadt, 1.200 Kilometer von der heimatlichen Burg Gamburg in Tauberfranken entfernt, erkrankt die letztgeborene Tochter der 50-jährigen Gräfin. Der Teenager leidet an einem schweren Nervenfieber. Unter diesem Begriff wird damals eine ganze Reihe von Infektionskrankheiten zusammengefasst, deren Ursache man noch nicht kennt, unter anderem auch der Typhus.
Die verzweifelte Mutter Maria Antonie weiß nicht mehr ein noch aus. Schließlich begibt sie sich in die Basilica di Sant’Agostino in Campo Marzio. Die dortige Madonna del Parto, eine berühmte Mariendarstellung, ist für Wundertaten bekannt, und so bittet auch unsere Gräfin an dieser Stelle die Muttergottes um ihre Fürsprache für die Genesung ihrer Tochter. Um ganz sicher zu gehen, legt sie auch gleich noch ein Gelübde ab: Sollte ihre Tochter die Heimat gesund erreichen, so will sie eine Kapelle zu Mariens Ehren errichten lassen. Offenbar geht der Plan der Gräfin auf, denn einige Zeit später erreicht sie mit ihrer gesundeten Tochter wieder die Heimat. Ihr Versprechen löst Maria Antonie bald darauf ein: In den Jahren 1836 und 1837 wird im Großen Kammerforst oberhalb der der Burg Gamburg die Maria-Hilf-Kapelle errichtet.
Nähert man sich heute der Kapelle von Norden, also von Gamburg her, dann empfängt einen ein für die Region untypisches, rundes Gebäude, das von einem Pteron, also einem überdachten Außenbereich mit Säulenring umgeben ist. Hierdurch scheint sich die klassische Form eines griechisch-römischen Rundtempels zu ergeben, die seit der Antike als Tholos bezeichnet wird. Es liegt nahe, zu vermuten, dass die Gräfin als Stifterin der Kapelle Inspiration in sakralen Bauten in Rom gefunden hat, ob im Tempietto di Bramante oder gar dessen Vorbild, dem Tempel des Hercules Victor.
Doch halt: Beginnt der staunende Betrachter die Kapelle zu umrunden, so bleibt er schon schon nach wenigen Metern mit großen Augen stehen. Keineswegs handelt es sich nämlich bei der Maria-Hilf-Kapelle um den vermuteten Rundbau, sondern lediglich um ein Teil eines solchen. Es wirkt, als hätte man die rückwärtige, nach Süden weisende Hälfte schlicht vergessen. An dieser Seite ist das Gebäude durch eine gerade, schmucklose Mauer aus grob behauenen Steinen abgeschlossen, aus deren Mitte lediglich eine flache Apsis ragt. Ob die Gräfin Ingelheim für die Genesung ihrer Tochter vielleicht doch nicht so richtig dankbar war und deshalb nur eine halbe Kapelle errichten ließ? Oder war ursprünglich noch eine Erweiterung oder ein baulicher Abschluss nach Süden geplant? Sorgte einst eine passende Bepflanzung des Areals für eine harmonische Gesamterscheinung des seltsamen Spargebäudes? Wir wissen es nicht.
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Kein Grund jedoch, sich die Kapelle nicht noch genauer anzuschauen. Ältere Bewohner der anliegenden Ortschaften berichten, dass sie vor einigen Jahrzehnten in deutlich schlechterem baulichen Zustand gewesen sei. Tatsächlich lassen sich die Spuren einer erfolgten Renovierung gut erkennen, bei der jedoch das knappe Budget prägender gewesen sein mag als der unbedingte Wille zur historischen Treue. Die Zeiten, in denen alljährlich im Mai an dieser Stelle noch Messen gelesen wurden, liegen jedenfalls schon über 100 Jahre zurück.
Der halbrunde Innenraum, der durch eine stets verschlossene, schmiedeeiserne Gittertür einsehbar ist, präsentiert sich einheitlich geweißelt. Wo die Farbe schon wieder etwas blättert, lassen sich Reste einer früheren, farbigen Ausmalung erkennen. Über dem pilasterartig angedeuteten Altar thront in der auch von außen sichtbaren Apsis eine Madonnenstatue. Die nur noch teilweise lesbare Sockelinschrift weist darauf hin, dass es sich um eine getreue Abbildung des Gnadenbildes der heiligen Muttergottes in der Augustinerkirche … Rom handelt – also jener Madonnenstatue, vor der die Gräfin für die Genesung ihrer Tochter gebetet haben mag. Doch selbst ein blutiger Laie erkennt sofort: Mit der filigran gestalteten Madonna del Parto in Sant’Agostino zu Rom hat die deutlich behäbigere Statue im Gamburger Großen Kammerforst nur wenig gemein. Möglicherweise ging die ursprüngliche Kopie im Laufe der Zeit verloren und wurde durch eine andere Skulptur ersetzt. Eine weitere, bemalte Madonna ziert die Ecke links neben der Apsis, zwei weitere Heiligenstatuen finden sich auf der rechten Seite.
An der Türlaibung, die wie die acht Außensäulen aus dem örtlich reich vorhandenen roten Sandstein gefertigt ist, findet man zweimal die Datumsangabe 14 XII 36, wodurch das Gebäude gut datierbar ist. Über dem Eingang sind die Familienwappen der Grafenhäuser Ingelheim/Echter und Westphalen zu sehen. Den Türsturz selbst ziert in lateinischer Kursivschrift die Inschrift Ave Maria o mater mea o Domina mea / me et domum Gamburg tibi totum offero – Gegrüßet seist du, Maria, oh meine Mutter, oh meine Herrin / mich und mein Haus Gamburg weihe ich dir ganz. Rechts neben dem Eingang ist eine weitere Schrifttafel eingelassen, die jedoch eher aus dem frühen 20. Jahrhundert zu stammen scheint. Sie fasst die Geschichte der Kapelle noch einmal kurz zusammen:
Durch die Erbauung dieser Kapelle genannt Maria Hülf wurde ein Gelübde erfüllt, welches Maria Antonie Gräfin Von Ingelheim gen. Echterin Von und zu Mespelbrunn geb. Gräfin Von Westphalen zu Fürstenberg im Jahr 1833 in Rom machte, als ihre geliebte Tochter Isabella Felicitas an einem Nervenfieber todlich krank darniederlag, und sie durch die Gnade und Führbitte der heiligen Muttergottes bei Gott dem Allmächtigen Erhörung zur Rettung, und Genesung Ihres geliebten Kindes fand.
Ehre sei dem Vater + dem Sohne + und heiligen Geiste + in Ewigkeit.
Die Kreuze im Text sind in Form eines Tatzenkreuzes ausgeführt, was wohl mit Bezug zum Deutschen Orden gesehen werden muss. Dieser hatte über Jahrhunderte im nur 25 Kilometer entfernten Bad Mergentheim seinen Sitz hat und zählte ein derartiges Kreuz zu seinen Insignien.
Fassen wir zusammen: Die Maria-Hilf-Kapelle im Großen Kammerforst nahe der Gamburg ist ein interessantes Kleinod für Freunde ungewöhnlicher Baugeschichte. Allerdings liegt sie nicht wirklich verkehrsgünstig: Von der Gamburger Dorfmitte am Dorfgemeinschaftshaus, wo man sein Auto abstellen kann, ist sie in 1,6 Kilometern zu Fuß zu erreichen. Die Strecke ist jedoch mit über 150 Höhenmetern Aufstieg verbunden. Alternativ fährt man zum Sattel am Apfelberg oberhalb von Hochhausen und erreicht die Kapelle von dort aus über 2,1 Kilometer Feld- und Waldwege mit insgesamt nur 48 Metern Aufstieg. Gleich, welchen Weg man wählt, befindet man sich auf dem Weg zur Kapelle immer auf einer ganzen Reihe hier deckungsgleicher Fernwanderwege: Dem Panoramaweg Taubertal, dem Main-Donau-Weg, dem Main-Neckar-Rhein-Weg, dem Weitwanderweg Romantische Straße, dem Europäischen Fernwanderweg E8 und natürlich einem der inzwischen unvermeidlichen Jakobswege.
Sehenswertes auf dem Weg: Das Naturschutzgebiet Apfelberg ist das älteste im Landkreis und birgt auf den regionaltypischen Trockenhängen eine interessante Flora und Fauna. Die Burg Gamburg ist über den Sommer an Wochenenden und Feiertagen nachmittags geöffnet. Eine Führung durch den Schlossherrn sollte man sich nicht entgehen lassen! Zwischen Burg und Kapelle findet man einen ungewöhnlichen Bildstock in Form einer abgebrochenen Säule, der vom örtlichen Bildhauer Matthias Buscher gestaltet wurde. Hier war die uns bereits bekannte Gräfin schon im Jahr 1823 vom Pferd gestürzt und gerettet worden. Die Inschrift und das hübsche Relief auf der Stele zeugen davon. Solide Angebote gegen Hunger und Durst findet man in der Gamburger Schlupfe-Scheune in der Brückenstraße, wo man bei schönem Wetter sehr angenehm im Garten unter den Obstbäumen sitzt.