Männig

Der Pawlowsche Verbraucher

Mittwochvormittag in einer Shopping Mall. Hier hat auch eine internationale Textilhandelskette ein großflächiges Ladengeschäft. Nur tröpfelnd verlassen meist jüngere Frauen, bepackt mit bunt bedruckten Plastiktaschen des Modehändlers, die Verkaufsstätte. Aber bei ungefähr jeder zehnten Kundin bietet sich dem Betrachter ein merkwürdiges Schauspiel: Das Warensicherungssystem löst aus und macht sich mit lautem Sirenengeheul bemerkbar. Die Käuferin nebst Plastiktüten springt hektisch in den Laden zurück, als würden sie von einem Gummiband zurückgezogen. Nach dem ersten Schreck schaut sie sich um und stellt fest, dass die Blicke der wenigen anderen Kunden auf sie gerichtet sind.

Nach zehn bis fünfzehn Sekunden hat die Sirene ihren Dienst vorerst wieder eingestellt. Bald darauf taucht meist eine Mitarbeiterin der Handelskette auf, die sich an den Einkaufstaschen der Kundin zu schaffen macht. In sicherem Abstand zum Warensicherungssystem entnimmt sie mal das eine, bald ein anderes der gekauften Stücke und trägt es zu den demonstrativ angebrachten Antennen am Ladenausgang. Bisweilen kann sie das fehlerhaft Alarm auslösende Kleidungsstück identifizieren und deaktiviert dann die Alarmfunktion per Magnet an der Kasse. Oft aber werden die Kundinnen einfach weitergschickt, weil man den Übeltäter in der Einkaufstasche nicht ausfindig machen kann. Beobachtet wird das Ganze stets von anderen Kundinnen und Kunden, die sich vielleicht etwas spektakuläre Unterhaltung, die Verhaftung einer Delinquentin gar, erhoffen.

Während etwa einer halben Stunde unterziehen sich dreizehn Kundinnen dieser Prozedur und brechen dabei fast ausnahmslos mehr oder weniger in Panik aus. Das Personal bleibt gelassen, ja gleichgültig und wechselt sich bei den Taschendurchsuchungen immer wieder ab, da es sich offenbar um keine besonders beliebte Tätigkeit handelt. Besonderer Trost oder gar eine Entschuldigung scheint den irrtümlich verdächtigten Kunden nicht zu widerfahren. Erstaunlich, wie man bei diesem Einzelhändler seine Kunden behandelt. Noch erstaunlicher, dass es diese sich gefallen lassen. Freilich, die Angst vorm Kaufhausdetektiv geht in breiten Kreisen der Bevölkerung ja immer noch um. Dabei sollte doch jeder Bürger inzwischen wissen, dass sich die Rechte angestellter Diebesjäger in Warenhäusern, wie auch die der Mitarbeiter von Wach- und Sicherheitsdiensten, nicht von denen eines Normalbürgers unterscheiden. Gemäß § 127 der deutschen Strafprozessordnung ist jeder berechtigt, einen Täter, den er auf frischer Tat antrifft, vorläufig festzunehmen – so lange, bis die Polizei eintrifft.

Auf frischer Tat betroffen, wie es der Gesetzestext formuliert, ist man aber nur dann, wenn man tatsächlich bei der Tat beobachtet wird, nicht, wenn ein wie auch immer geartetes, offensichtlich auch noch falsch justiertes Warensicherungssystem den Verdacht einer zeitlich schon zurückliegenden Tat vermeldet. Selbst ein dringender Tatverdacht rechtfertigt nach gängiger Rechtsprechung nicht die so genannte Jedermannfestnahme nach §127 StPO. Von den rechtlichen Aspekten abgesehen, erscheint es mehr als fragwürdig, dass ein Handelsunternehmen seine Kunden offenbar sehr regelmäßig und grundlos öffentlich verdächtigt und durch Bloßstellung demütigt. Mit einer Wertschätzung der Klientel, die man sich selbst bei Anbietern im unteren Preissegment erwarten kann, hat dies nichts zu tun. Es verwundert schon, dass ein Unternehmen, das mit Millionenetats Werbung betreibt, seiner Geschäftsgrundlage auf der anderen Seite auf diese Weise erheblichen Schaden zufügt.

Wie sollte man sich aber nun selbst, als Kunde, in einer solchen Situation verhalten? Aufgrund meiner Beobachtungen habe ich mir für diesen Fall folgende Strategie zurechtgelegt:

1. Löst der Alarm eines Warensicherungssystems aus, so gehe ich unbeirrt weiter, gleich, ob ich ein Geschäft gerade betrete oder verlasse. Schließlich weiß ich, dass ich meine Waren rechtmäßig erworben habe, und alle anderen dürfen ebenso von einer Unschuldsvermutung ausgehen. Wie sich ja bei bei meinen Beobachtungen gezeigt hat, waren die Mitarbeiterinnen des Handelsunternehmens zunächst auch gar nicht interessiert, solange nicht die Kundinnen mehr oder weniger auf sich selbst aufmerksam machten.

2. Wünscht ein Mitarbeiter eines Ladengeschäfts, in dem ich mich befinde, Einblick in eine Tragetasche mit Produkten des Händlers, die ich kurz zuvor erworben habe, so kann er diese Untersuchung nach oder im Rahmen meiner Rückgabe der Ware an der Kasse gern vornehmen. Alle Taschen, die nicht bei diesem Händler erworben wurden, sowie die Taschen meiner Kleidung sind selbstverständlich für die Mitarbeiter eines Ladens stets tabu.