Der Tag im Spätherbst ist kühl und regnerisch. Dennoch haben wir beschlossen, auf unserer Fahrt von Nürnberg nach München den Umweg über das kleine Dorf Graben am Rand der südlichen Frankenalb zu nehmen. Dort, nur wenige Kilometer nördlich der Stadt Treuchtlingen, findet man die Reste eines mysteriösen Bauwerks des Mittelalters, der Fossa Carolina. Authentisch überliefert ist nur wenig über dieses eindrucksvolle Bodenmonument, das auch Karlsgraben genannt wird, und die Theorien der Heimatkundler und Privatgelehrten, die sich damit auseinandergesetzt haben, sind oft widersprüchlich. Festzustehen scheint lediglich, dass es sich bei der Fossa Carolina um einen ersten Versuch handelt, die Gewässersysteme von Donau und Rhein/Main durch einen Kanal zu verbinden.
Der Ort scheint für dieses Unterfangen in der Tat sehr günstig gewählt: Die Altmühl als Zulauf der Donau und der Oberlauf der Schwäbischen Rezat, die dem Main zufließt, sind an dieser Stelle nur etwa 2.300 Meter voneinander entfernt. Würde man eine höhengleiche Verbindung der beiden Gewässer schaffen wollen, dann müsste man hier einen etwa 5.600 Meter langen Graben anlegen, der die Wasserflächen der Altmühl nördlich von Treuchtlingen und der Schwäbischen Rezat südöstlich von Weissenburg mit einer Meereshöhe von je etwa 409 Meter über Normalnull verbindet. Dabei wäre der Geländerücken der europäischen Wasserscheide mit der Höhe von 421,50 Metern zu durchqueren, wodurch sich eine Kanaltiefe von maximal zwölf Metern unter Geländeniveau ergeben würde. Und genau dies scheint man in der Tat an dieser Stelle vor einigen hundert Jahren versucht zu haben.
Glaubt man den Fränkischen Reichsannalen, so geht der Bau des Kanals auf das Jahr 793 zurück. Die verschiedenen Handschriften, die das Leben und Werk Karls des Großen schildern, stellen diese Begebenheit einmal eher pauschal, dann aber wieder sehr detailliert dar. Am genauesten schildert die so genannte Lorscher Handschrift, was sich damals ereignet haben soll:
Deutscher Text
Und als er 1 von denen, die sich als Fachleute bezeichneten, überzeugt worden war, dass man, wenn man zwischen Rezat und Altmühl einen Graben anlegte, der mit Schiffen befahrbar wäre, bequem von der Donau in den Rhein fahren könne, da die beiden Flüsse ja in die Donau und in den Main mündeten, reiste er unverzüglich mit seinem Gefolge dort hin und blieb den gesamten Herbst mit einer großen Zahl eigens geheuerter Männer bei den Bauarbeiten. Und so hob man zwischen den vorgenannten Flüssen einen Graben von 2.000 Doppelschritten Länge 2 und 300 Fuß Breite 3 aus; doch vergeblich. Denn aufgrund anhaltender Regenfälle und wegen des vorhandenen sumpfigen Bodens konnte das einmal geschaffene Werk nicht bestehen; denn genauso viel, wie von den Bauarbeitern am Tag an Erde ausgehoben worden war, fiel nachts wieder zusammen, weil die ausgehobene Erde an ihren alten Platz zurück rutschte. Während er also mit diesen Arbeiten beschäftigt war, wurden ihm zwei sehr unangenehme Botschaften aus unterschiedlichen Teilen seines Reiches gemeldet; zum einen vom umfassenden Aufstand der Sachsen, zum anderen von einem Angriff der Sarazenen, die seine Grenztruppen überfallen und in Kämpfe verwickelt, dabei viele Franken getötet hatten und als Sieger davongezogen waren. Erschüttert von diesen Tatsachen kehrte er nach Franken zurück und brachte Weihnachten in St. Kilian am Main 4, sowie Ostern am gleichen Fluss in der Königspfalz Frankfurt zu, wo er schon den Winter zugebracht hatte hatte.
Lateinisches Original
Et cum ei persuasum esset a quibusdam, qui id sibi compertum esse dicebant, quod si inter Radantiam et Alcmonam fluvius eiusmodi fossa duceretur, qua esset navium capax, posse percommode a Danubia in Rhenum navigari, quia horum fluviorum alter Danubio, alter Moeno miscetur, confestim cum comitatu suo ad locum venit ac magna hominum multidudine congregata totum autumni tempus in eo opere consumpsit. Ducta est itaque fossa inter praedictos fluvius duum milium passuum longitudine, latitudine trecentorum pedum; sed in cassum. Nam propter iuges pluvias et terram, quae palustris erat, nimio humore naturaliter infectam opus, quod fiebat, consistere non potuit; sed quantum interdiu terrae a fossoribus fuerat egestum, tantum noctibus, humo iterum in locum suum relabente, subsidebat. In hoc opere occupato duo valde displicentia de diversis terranum partibus adlata sunt; unum erat Saxonum omnimoda defectio, alterum quod Sarraceni Septimaniam ingressi proelique cum illius limits custodibus atque comitibus conserto, multis Francorum interfectis, victores ad suos regressi sunt. Quibus rebus eommotus in Franciam reversus est celebratvitque natalem Domini apud sanctum Kilianum iuxta Moenum fluvius, pascha vero super eundem fluvium in villa Francovurd, in qua et hiemaverat.
Andere Handschriften berichten sogar explizit, Karl sei mit seinem Hofstaat durch den Kanal gen Würzburg gefahren. Domnus Carolus rex per fossatum Alchmonae fluminis perrexit, heißt es beispielsweise in den Annales Maximiniani, die in einem Kloster in Trier aufbewahrt wurden. Freilich, die Reichsannalen waren das, was man heute als Regierungs-PR bezeichnen würde und sind daher in ihren Schilderungen sicherlich oft mit Vorsicht zu genießen. Betrachtet man jedoch den Querschnitt der maßgeblichen Grabenanlage, dann erscheint es durchaus als eingängig, dass man seinerzeit versucht hat, eine ebenengleiche Verbindung zwischen Altmühl und Rezat zu schaffen – was allerdings, wie die Lorscher Handschrift ja eindrucksvoll schildert, aufgrund der Bodenbeschaffenheit und des damaligen Stands der Technik nicht von Bestand sein konnte. Auch spätere Geschichtsschreiber wie Aventinus beschäftigen sich noch hunderte Jahre später mit der Fossa Carolina. Und so stammt auch die kolorierte Federzeichnung, mit der die Bauarbeiten am Karlsgraben am häufigsten illustriert werden, aus dem Jahr 1546 – über 750 Jahre nach dessen vermuteter Erbauung.
Nach dem vergeblichen Versuch des Baus eines niveaugleichen Kanals versuchte man dann vermutlich ein zweites Mal, das Infrastrukturprojekt doch noch zu realisieren. Dies geschah, so ist anzunehmen, in Form einer Kette von einzelnen Weihern, die durch Rampen verbunden waren, über die die Flussboote gezogen werden mussten. Schleusen im heutigen Sinne waren nämlich zu jener Zeit in Mitteleuropa noch unbekannt. Erst ab dem 14. Jahrhundert sind Schifffahrtsschleusen mit den noch heute üblichen Schleusentoren in Deutschland dokumentiert. Auf die – zumindest zeitweise – Existenz einer Weiherkette deuten auch zwei wasserbauliche Maßnahmen hin, die bei Grabungen in den sechziger und neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts entdeckt wurden: Zum einen die Lage des Oberlaufs der Schwäbischen Rezat, die offenbar nicht mehr in ihrem ursprünglichen Bett fließt, zum anderen ein ehemaliger Stausee oberhalb des nordöstlichen Kanalteils, auf den noch der alte Gewannname Seeäcker hindeutet. Es liegt nahe, dass dieser Weiher wie eine Stauschleuse zum kurzfristigen Fluten des Kanalteils zur Rezat hin diente, da das junge Gewässer selbst für die damaligen schlanken Flussboote mit geringem Tiefgang vermutlich noch zu wenig Wasser führte.
Doch die gewaltigen Probleme beim Bau der Fossa Carolina hatten den Projektverantwortlichen vermutlich sogar noch größeres Ungemach erspart. Wäre es nämlich gelungen, eine niveaugleiche Verbindung zwischen Altmühl und Rezat ohne Schleusentore zu graben, dann wäre zu befürchten gewesen, dass das Wasser der Altmühl ganz oder zu einem großen Teil Richtung Norden abgeflossen wäre. Damit wäre dann der Unterlauf der Altmühl weitgehend wasserfrei und die Zufahrt per Boot von der Donau her unmöglich geworden. Dies hätte natürlich die Idee der schiffbaren Verbindung zwischen Donau und Main ad absurdum geführt. Ob und wie lange der Karlsgraben als Schiffahrtsweg tatsächlich in Betrieb war, ist unbekannt und bietet für die Experten immer wieder reichlich Diskussionsstoff.
Die heute sichtbaren Reste des Kanalbauwerks mögen spärlich sein im Vergleich zu dem, was hier vor über 1.200 Jahren geplant war, zeigen sich aber dennoch sehr beeindruckend. Die noch bestehende, etwa 450 Meter lange Wasserfläche des ehemaligen Kanals dient heute quasi als Dorfweiher der Ortschaft Graben. Direkt am Nordende des Dorfes beginnen die gewaltigen Dämme östlich und westlich der künstlichen Geländeeinkerbung, die aus dem Aushubmaterial der Bauarbeiten aufgeschüttet wurden. Diese Dämme dienten noch bis weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein der örtlichen Bevölkerung zur einfachen Gewinnung besonders feinen und daher beliebten Bausands, was die Problematik der Baugeschichte des Karlsgrabens im Mittelalter noch einmal unterstreichen mag. Die Wälle zu beiden Seiten des Kanals sind heute baumbestanden und als Geotop besonders geschützt. Leider schneidet die 1869 in Betrieb genommene Bahnstrecke Nürnberg-Augsburg diesen Bereich vom flacheren, weniger deutlich erhaltenen Teil der Fossa Carolina im Nordosten völlig ab. Doch auch dort sind die von Menschenhand geschaffenen Geländekonturen noch klar zu erkennen.
Der Karlsgraben ist ein Stück Kulturgeschichte, das beim bequemen Erwandern oder dem Erkunden per Fahrrad eine ganz besondere Ausstrahlung auf den Besucher hat. Da freut es einen natürlich auch, nur wenige Tage nach dem Besuch in einer vielfach abgedruckten dpa-Meldung zu lesen, dass schon im kommenden Jahr ein Forschungsprojekt der Universitäten Leipzig und Jena sowie des Bayerischen Landesamts für Denkmalpflege weiteres Licht ins Dunkel der Kanalgeschichte bringen soll. Für uns wird diese Stippvisite an einem regnerischen Herbsttag sicherlich nicht der letzte Besuch an der Fossa Carolina gewesen sein.
Im digitalen Bayern-Atlas ist der Karlsgraben in der topografischen Kartenansicht wie auch im Luftbild besonders gut zu erkennen. Den gut erhaltenen südlichen Teil der Fossa Carolina erreicht man am besten über die Karlsgrabenstraße im Treuchtlinger Stadtteil Graben. Der nordöstliche, fast wasserlose Teil der Anlage kann über die Gemeindeverbindungsstraße zwischen Dettenheim und Grönhart angefahren werden. Die Karlsgraben-Ausstellung in der Grabener Hüttingerscheune blieb uns leider bei diesem Besuch erspart. Zwar ist die Ausstellung überall gut beschildert, jedoch im Winter durchgehend geschlossen. Ausgezeichnete Informationen über und viele Bilder der Fossa Carolina bietet die Webseite von Hans Grüner. Die Bilder im Header dieses Artikels sowie in der eingeklinkten, kleinen Bildergalerie hat Iris Männig aufgenommen.
- Karl der Große ↩
- Vermutlich 3.224 Meter, geht man von einem Doppelschritt zu fünf Fuß (siehe nächste Fußnote) aus, wie seit der Antike üblich; die Maße von für Doppelschritte unterschieden sich jedoch regional stark, so dass auch bis hinab zu 1.600 Meter gemeint sein könnten ↩
- 96,72 Meter, ein karolingischer Fuß entsprach 32,24 Zentimeter ↩
- Würzburg ↩
André Spiegel
Spannendste Lektüre seit langem.
Da ich gerade im EDGE-Land bin und Links praktisch unerreichbar, hätte ich mich über eine Karte im Artikel gefreut. Andererseits – so ist die Perspektive vielleicht sogar passender und, in der Tat, mysteriöser.