Männig

Wintertipps für Autofahrer

Kaum ist es einmal ein paar Tage kalt, schon hört man allenthalben Klagen von Autofahrern, deren top-ausgestattete Kraftfahrzeuge der neuesten Generation mit Temperaturen um minus 15 Grad Celsius nicht mehr zurecht kommen wollen. Dieselmotoren versagen den Dienst, weil der zugehörige Kraftstoff ausgeflockt ist, und die große deutsche Intellektuellenorganisation ADAC vermeldet Masseneinsätze wegen winterbedingter Startschwierigkeiten ihrer Mitglieder.

An solchen Tagen erinnere ich mich immer gern an das robusteste und zuverlässigste Fahrzeug, das ich je gefahren habe. Es war ein Lada 2101, im Osten besser als Жигули bekannt. Während die Karrosserie der handlichen Limousine unter Fiat-Lizenz gefertigt wurde und dem Modell 124 der Italiener fast glich, ähnelte der Motor eher dem, was seinerzeit von Daimler-Benz für den Audi 60 entwickelt worden war. Die robuste 1.100-Kubik-Maschine konnte mit Normalbenzin betrieben werden und leistete solide 60 PS oder 44 Kilowatt.

Mein Prachtstück des sowjetischen Herstellers AwtoWAS hatte ich 1983 für 650 D-Mark gekauft. Damals war das in einem eigentümlichen Gelbbraun gehaltene Fahrzeug gerade mal drei Jahre alt, und seine dunkelbraunen, rutschig-glatten PVC-Sitze verströmten immer noch ihren typischen, intensiven Plastikgeruch im Innenraum. Dafür waren die beiden Bremsscheiben an den Vorderrädern in den wenigen Monaten, die der Lada vor dem Kauf nicht mehr gefahren worden war, fast weggerostet. Ersatz war als Original-Ersatzteil für knapp 20 Mark pro Stück schnell erstanden und eingebaut, der Zündzeitpunkt und der Schließwinkel des Motors mithilfe von Prüflampe und dem alten Geodreieck aus Schultagen flink neu justiert.

Beim Kauf hatte ich im Handschuhfach des Schiguli auch die originale Betriebsanleitung vorgefunden, die allerhand nützliche Tipps bereit hielt. Dort erfuhr der glückliche Fahrzeugbesitzer beispielsweise, dass sich unter dem Zündverteiler eine kleine Rändelschraube befand, mit deren Hilfe der Zündzeitpunkt in einem gewissen Rahmen verstellt werden konnte, um die Laufeigenschaften des Motors den wechselnden Benzinqualitäten – offenbar eine der speziellen Errungenschaften der sowjetischen Volkswirtschaft – anzupassen. Insbesondere gab das Handbuch natürlich auch wertvolle Hinweise für den Winterbetrieb, denn die kalte Jahreszeit neigt in Russland bekanntlich dazu, lang und hart zu sein.

Bei Temperaturen von -15 bis -20 Grad und darunter, so empfahl die Betriebsanleitung, möge man wie folgt vorgehen:

  1. Das Fahrlicht des Fahrzeugs, also Abblend- oder Fernlicht des Fahrzeugs einschalten. Dies war schon leichter gesagt als getan, denn wie jeder Ladafahrer weiß, waren meist nicht nur die Türschlösser, sondern obendrein der ganze Türöffnungsmechanismus mit den nach oben zu ziehenden, verchromten Griffen eingefroren. Dem Zugang zum Kippschalter für das Licht am Armaturenbrett hatten also einiger Fleiß und einige Wärmezufuhr, aus welcher Quelle auch immer, voranzugehen.
  2. Die Kurbel aus dem Bordwerkzeug durch die Öffnung in der vorderen Stoßstange und durch das Windleitblech einführen und im Stirnrad des Motors einrasten. Natürlich befand sich das Bordwerkzeug in aller Regel im Kofferraum. Und der Kofferraum war seinerseits auch wieder mit einem Schloss verschlossen. Tja. Zu bemerken ist außerdem, dass der Schiguli zwar aus gutem Grund mit einem ungewöhnlich umfangreichen Werkzeugsatz ausgeliefert wurde, dass jedoch banale Arbeiten wie beispielsweise das Entgraten von Schraubenschlüsseln nach dem Guss offenbar der Würde der seinerzeit herrschenden Arbeiterklasse diametral zuwiderliefen. Jedenfalls war, wenn man eines dieser Werkzeuge, insbesondere bei niederen Außentemperaturen, in die Hand nahm, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit mit schmerzhaften Hautabschürfungen oder -schnitten zu rechnen.
  3. Den Motor mindestens zwei volle Umdrehungen mit der Kurbel drehen. Selbst bei betriebswarmem Motor und entsprechend dünnflüssigem Motoröl war es mit der kurz gekröpften Kurbel, die primär zur Betätigung des Original-Lada-Scherenwagenhebers gedacht war, fast unmöglich, die Kompression des Motors zu überwinden und die Kurbelwelle frei zu drehen. Sobald das Öl im Kurbelgehäuse bei Minusgraden eher einem hochviskosen Gel glich, war an Derartiges überhaupt nicht zu denken. Jedenfalls nicht mit der mitgelieferten Kurbel und auch dann nicht, wenn man nicht über die titanenhaften Kräfte wodkagestählter, sibirischer Waldläufer verfügte.
  4. Die Kurbel abziehen, das Fahrlicht ausschalten und den Anlasser mittels des Zündschlüssels betätigen. Jedem, der bei 25 Grad unter Null die beschriebenen Prozeduren gewissenhaft durchgeführt hatte, war schon mindestens eine Viertelstunde zuvor aufgefallen, dass das ehemals helle Leuchten der Hauptscheinwerfer allmählich dämmriger geworden war. Die nicht mehr ganz neuwertige Bleibatterie sozialistischer Provenienz hatte damit vorsichtig signalisieren wollen, dass mittlerweile ihr letztes Stündlein geschlagen hatte und dass an Starten des Motors per Anlasser beim besten Willen nicht mehr zu denken war. Folglich blieb keine andere Wahl, als wieder einmal die Nachbarn herauszuklingeln und um Hilfe beim Anschieben auf der vereisten Straße zu bitten.

Dennoch, die Idee hinter der ganzen Prozedur war ja eigentlich schlüssig und zielführend, hätten die kleineren, technischen Unwägbarkeiten nicht einen Strich durch die Rechnung gemacht. Denn durch das kurze (!) Einschalten des Fahrlichts sollte die Batterie durch Stromentnahme leicht erwärmt und damit, wir erinnern uns an die Arrhenius-Gleichung in der neunten Klasse, zu potenziell mehr Stromabgabe beim Anlassen angeregt werden. Gleichzeitig sollte durch das Drehen mit der Kurbel das dickflüssige Öl im Motor verteilt werden, um dem Anlasser bei seiner Tätigkeit kurz darauf weniger Widerstand entgegen zu setzen. Dass sich dies jedoch unter den üblichen, winterlichen Umständen von normal gebauten, menschlichen Wesen nicht so einfach umsetzen ließ, das was nun leider ein typisches Beispiel des Unterschieds zwischen sozialistischer Theorie und Praxis.

Zur Ehrrettung meines geschätzten Schiguli muss ich allerdings gestehen: Die grandiose Prozedur aus der Betriebsanleitung wurde niemals auch nur annähernd erforderlich. Die Limousine, die am Ufer der Wolga gefertigt worden war, sprang nämlich auch bei kältesten Temperaturen stets zuverlässig an – ganz ohne die Beschwörungszeremonien, die der Hersteller empfahl. Mehr noch, das Auto begleitete mich über gut zwei Jahre und 80.000 km, bevor ich es für 450 Mark, also mit ganzen 200 Mark an Wertverlust, wieder verkaufte. Und in der ganzen Zeit wurden neben der üblichen Verschleißteile wie Zündkerzen, Verteilerfinger und Reifen lediglich eine neue Zündspule und ein Ersatz des Scheibenwischermotors fällig. Von derartig robuster und zuverlässiger Technik können die meisten Besitzer neuzeitlicher Kraftfahrzeuge nur träumen.