Nur schwer kommt man in diesen Tagen an den Begriffen Wikileaks und Cablegate vorbei. Der Hype, der von etablierten Medien, in erster Linie natürlich von den mit Informationen vorversorgten wie dem Spiegel, um die jüngsten Veröffentlichungen der angeblichen Enthüllungsplattform gemacht wird, ist allerdings nur sehr schwer nachzuvollziehen. Schließlich enthalten die als mehr oder weniger geheim klassifizierten Dokumente aus den Kreisen der US-Regierung nichts anderes als Informationen, über die sich das Volk schon seit Monaten oder gar Jahren auf der Straße, an Stammtischen oder im Netz das Maul zerreißt: Merkel ist beharrlich aber aalglatt, Westerwelle besitzt zwar Geltungsdrang aber wenig eigene Ideen, Guttenberg buhlt um Gunst und Förderung beim großen Bruder, und einigen arabischen Staaten käme ein Angriff der USA auf den Iran gerade recht. Umso mehr verwundert es, wie in Blogs und Microblogs das Thema noch einmal hochgefeiert wird.
Was die jetzt veröffentlichten Dokumente aus Botschaften und Behörden weitgehend ausblenden, sind die Themen, die Politik und Wirtschaft derzeit wirklich beschäftigen und sicherlich in Zukunft noch viel beschäftigen werden: Die dramatisch gestiegene Labilität der Währungssysteme und des Bankensektors, die Entdemokratisierung westlicher Staaten, das an seine Grenzen stoßende System internationaler Logistik, auf dem weiteres, dringend benötigtes Wirtschaftswachstum beruht, sowie Kriege, die zur Wahrung wirtschaftlicher Interessen von der westlichen Staatengemeinschaft geführt werden. Auf der Suche nach den Gründen für das Hochreizen der Cablegate-Banalitäten kommt man daher kaum umhin, sich fast in den Dunstkreis der Verschwörungstheorien zu bemühen.
Die PR hat schon seit längerem Einzug in unseren Alltag gehalten, scheint ihre Blüte jedoch erst in jüngster Zeit zu entwickeln. Die etablierten Medien bauen aus ökonomischen Gründen ihre Redaktionen auf Mindestmaß ab. Dennoch müssen Spalten, Sendeminuten und Webseiten gefüllt werden. Damit bietet sich die Chance für Wirtschaftsunternehmen und Politik, ihre Presseinformationen und vorgefertigten Artikel zunehmend un- oder kaum redigiert in immer noch als seriös und glaubwürdig geltenden Publikationen zu platzieren. Die Euphemismen kennen kaum Grenzen: Inzwischen verkaufen es Unternehmen bereits als Corporate Transparency im Rahmen ihrer Corporate Social Responsibility, wenn sie gezielt Informationen, die ihrer Akzeptanz, ihrem Fortkommen und ihrem wirtschaftlichen Erfolg dienen, strategisch geschickt über Medien und eigene Kanäle in der Öffentlichkeit streuen.
Die Veröffentlichungen beschränken sich dabei nicht ausschließlich auf wirklich positive Informationen. Gerade in Krisenfällen, wenn ein Unternehmen in die öffentliche Kritik gerät, hat es sich als taktisches Mittel bewährt, auch den einen oder anderen Fehler zuzugeben, die eine oder andere Information scheinbar ungewollt an die Öffentlichkeit sickern zu lassen, um taktisch geschickt von den großen, wirklichen Problemen abzulenken. Es steht nicht infrage, dass die Politik, die längst sämtliche Werkzeuge der PR absorbiert hat, sich dieser Taktik ebenfalls erfolgreich bedient. Desinformation und Propaganda, nach dem Ende des Kalten Kriegs zunächst ausgestorben geglaubt, feiern so im Zeichen politischer PR fröhliche Urständ.
Warum also sollte eine staatliche Organisation eine zwar junge aber dennoch in weiten Kreisen als höchst glaubwürdig geltende Plattform wie Wikileaks nicht für seine propagandistischen Zwecke nutzen? Es ist nur schwer vorstellbar, dass eine solche Masse an Informationen, wie nun der Öffentlichkeit vorgestellt, den Dunstkreis staatlicher Behörden und Geheimdienste ohne deren Willen verlässt. Als noch unwahrscheinlicher erscheint es, dass sich eine Person oder gar eine Gruppe von Insidern dem Spionagevorwurf aussetzt, ohne durch die Veröffentlichung veruntreuter Dokumente einen wirtschaftlichen oder zumindest prestigeträchtigen Vorteil zu erlangen. Letzteres gilt natürlich ganz besonders in Anbetracht des denkbar unspektakulären Inhalts der Cablegate-Dokumente.
Die Menschen auf der Straße, die Stammtische und die Blogosphäre haben durch die jüngste Wikileaks-Veröffentlichung also keinen Wissensgewinn, sind jedoch, getreu des Sprichworts Freude ist das Wiedererkennen von Bekanntem, geradezu euphorisch darüber, dass sie all das ja schon immer gewusst haben. Schaden der Veröffentlichungsaktion: Keiner, für niemanden. Nutzen: Die Bürger der westlichen Staatengemeinschaft sind mit den kleinen, für sie hingeworfenen Bröckchen beschäftigt und kümmern sich zunächst einmal nicht um das politische Tagesgeschäft, wie das allmählich zerbröckelnde Weltwirtschaftssystem, die zunehmende Einschränkung der persönlichen Freiheiten oder schon seit längerem schwelende Wirtschaftskriege.
Das wahrscheinlichste Szenario oder eine absurde Verschwörungstheorie?
Benni
Durchaus denkbar.
Da die Dokumente ja aber eh nur so mittelgeheim waren (irgendwo hab ich von >2 Millionen Leseberechtigten gelesen), ist es ja auch nicht allzu unwahrscheinlich, dass das halt ganz klassisch geleakt ist.
PR ist das vor allem für Wikileaks selbst. Assange ist unter Beschuss und will damit wieder Punkte gut machen bei den Medien. Deswegen (?) hat er ja die Leute auch rausgeschmissen, die sich nicht so auf US-Themen kapriziert haben, wie er. Deswegen die Vorveröffentlichung über die klassischen Medien. Wenn es nur um Transparenz ginge, könnte man es ja auch einfach ins Netz stellen und gut ist.
leah_herz
Absolut! Mein erster Gedanke, als ich über die “neuen” Wikileaks “Enthüllungen” las: cui bono? Bei allem, was man über die CIA “weiß” oder schon immer “zu wissen glaubte”, kann man sich ein solches Szenario gut vorstellen: Ablenkungsmanöver. Immer eine gute Idee, bei der Aufdeckung von Skandalen schnell eine andere treibbare Sau auf den Weg durchs Dorf zu schicken. Klappt doch.
Sven
Du fragst danach, ob es ein wahrscheinliches Szenario, oder eine Verschwörungstheorie ist.
Ich halte es zumindest für ein interessantes Szenario. Immerhin wird so die implizite Behauptung aufgestellt, dass Politik und die politischen Strategen intelligent (in ihrem Sinn) handeln. Das sie nicht von Zufällen überrascht werden und das Handeln einer tieferen Logik im System folgt.
Der Wissensgewinn durch #cablegate ist wahrlich mehr als dürftig, der Nachrichtenwert vergleichsweise gleich Null.
Die Aufmerksamkeit, die dieser Medieninszenierung im Augenblick zukommt erschreckt ein wenig. Auch, weil ich mich selbst dabei erwischt habe, diesem Theater auf den Leim zu gehen.
Es sind keine neuen Gedanken, keine neuen Inhalte. Es ist alter Wein in neuen Schläuchen.
Wem diese Aufmerksamkeit auf jeden Fall zugute kommt ist der Plattform Wikileaks, die sich im Bewusstsein der Medien, Bürger und der Geldgeber als verlässlicher Lieferant von Aufmerksamkeit darstellt. Und es gelingt Wikileaks mit diesem Coup scheinbar von den eigenen Problemen abzulenken.
Viel mehr noch als die Regierungen, hat die Organisation dies dringend nötig. Erschaffe einen Außenpolitischen Skandal und auf die Innenpolitik wird keiner achten. So könnte das Motto lauten.
Auch hier fehlt mir das kritische Hinterfragen der etablierten Presse, die wieder einmal ihrem Auftrag nicht gerecht wird.
drmirror
Ich glaube nicht, dass man eine Verschwörungstheorie oder auch nur bewußte Ablenkung vermuten muss. Wir Menschen haben offenbar eine ganz unausrottbare Tendenz, uns auf nebensächliches zu stürzen und die Hauptsache links liegen zu lassen.
orangeguru
Was ist in der Politik schon Wahrheit? Und was ist Wahrheit in unserer medien- & informationsverseuchten Welt?
Das Ausmaß der neuen Freiherrentums der modernen Eliten ist so aalglatt und syteminteger, so daß selbst die wüsstesten Enthüllungen nur den Frust der Kleingetretenen stärken und den Medien weiteres Stroh liefern.
Die Öfen der Ideologen und der Revolutionäre sind längst erkaltet.
Man erschießt heute keine Politiker mehr und Geschäftsleute sind heute nur noch die heimlichen Helden der “Noch-Armen”.
Rote Brigadisten wird man bei den Infonauten und Mousetivisten vergeblich suchen. “I like” ist eben nicht dasselbe wie “I shot the Sheriff” …
Da sich im Feudalismus 2.0 alle als potentielle Gewinner oder Bald-auch-Reiche sehen fehlt es an einem echten Feuer. Und wenn es entsteht (wie bei der Tea Party oder unseren hiesigen Grünen), dann ist es meist fehlgeleiteter Protest gegen die falschen Dinge oder einfach nur alles …
Dank der vielen “Information at your Fingertips” sind die schon ganz blasig, vernarbt und vor allem gefühllos. Selbst wenn sich George Bush täglich Kinderfingern ernährt hätte, so wäre der “Outrage” nicht größer als wenn Lady Gaga eine Woche nicht twittert.
Die neuen Freiherren kennen keine Eigenbestrafung für Betrug, Lügen und Töten der “little People”. Die Banker dürfen Nationen ruinieren und ganze Generationen in die Armut treiben – ohne Konsequenzen. George Bush bekennt sich öffentlich zum Folterbefehl – ohne Konsequenzen.
In der Dauerstimulanz der Krisen würde uns nicht einmal das Aufklatschen der eigenen Fresse auf dem Realitätbeton wirklich stören. Hauptsache wir haben was zu twittern, meckern, betroffen sein oder “liken” … krass ist das neue cool … und den ständigen Strahl der güllenden Enthüllungen trinken wir ebenso willig wie Chemo Cola oder andere gierig-geizende Gemeinheiten der Freiherren 2.0.
Abschließen möchte einen Porno-Titel als neues globales Volksmotto zitieren: “Schlucken, das ist mein Leben!”
Laura
Ich kann Wikileaks nur unterstützen. Auch die Piratenpartei unterstützt Wikileaks und stellt einen Mirror der Seite zur Verfügung. Unter wikileaks.piratenpartei.de kann man die Seite nach wie vor erreichen. Weiter so!