Episode 1 – Bauer L. und sein Traktor

Es dürfte eine meiner frühesten Erinnerungen sein: Hinaus auf die Straße zu spingen, wenn der Müll abgeholt wurde. Denn dann war endlich mal was los, in dem süddeutschen Kleinstädtchen, in dem ich aufwuchs. Mülltonnen gab es noch nicht in der ersten Hälfte der Sechzigerjahre des letzten Jahrhunderts, zumindest nicht dort. Der Müll – freilich unsortiert – wurde einfach in Kisten, Kartons oder Säcken am Straßenrand bereitgestellt. Und dann kam, irgendwann im Laufe des Tages, der Bauer L. mit seinem alten Ackerschlepper die Straße heruntergetuckert. Angehängt an den Traktor ein Gummiwagen mit erhöhten Bordwänden und darauf bereits eine Riesenmenge loser Müll.

Hinter der stinkenden Fuhre lief ein häufig wechselnder Gehilfe, der den weiteren, am Straßenrand gestapelten Müll auf den Anhänger warf. Ab und zu stoppte das Gespann, denn es war üblich, neben besonders große Müllmengen eine oder zwei Flaschen Bier zu stellen. Diese wurden dann in der Regel von Bauer L. und seinem Helfer in Windeseile geleert – oder zu fortgeschrittener Stunde auch einfach gegen leere Flaschen aus einem eigens mitgeführten Leergutbestand ausgetauscht. War der Anhänger voll, dann wurde die lose, stinkende Fracht in die aufgelassenen Lehmgruben der Ziegelei des Nachbardorfs gekippt, wo die Anwohner auch sämtlichen Sperrmüll bis hin zu kompletten Altautos deponierten.

Episode 2 – Die Blechmülltonne

Noch irgendwann in den Sechzigern hatte sich Bauer L. totgesoffen, und so bestand die Notwendigkeit, den Müllsektor der Kleinstadt zu professionalisieren, da wohl niemand anderes bereit war, den wenig prestigereichen Job des Müllkutschers zu übernehmen. Alle Haushalte in der Region erhielten also eine runde Blechmülltonne mit 110 Litern Fassungsvermögen, wahlweise auch ein kleineres Modell mit nur 50 Litern Inhalt. Werkstoffbedingt wog das 110-Liter-Modell bereits in leerem Zustand etwa 25 Kilogramm, und so kamen an dem neu eingeführten Müllauto auch erstmals Hebeeinrichtungen für die Entleerung zum Einsatz.

Episode 3 – Die Plastikmülltonne

Um 1980 herum hatte die Kunststofftechnologie einen großen Sprung gemacht. Dies bedeutete nicht nur weitaus mehr Müll, sondern auch neue Mülleimer, die ihrerseits ebenfalls aus Plastik hergestellt waren. So begann die Zeit der neuen, viereckigen und mit zwei Rädern versehenen Müllbehälter nach Norm EN 840, die auch heute noch in weiten Bereichen Deutschlands der Standard sind. Das meinem damaligen Zweipersonenhaushalt zugeteilte Modell fasste 240 Liter und wurde immer noch wöchentlich geleert. Mülltrennung fand auch um 1980 noch nicht statt.

Episode 4 – Intermezzo: Der Müllschlucker

Der Umzug in die große Stadt im Jahr 1988 brachte gleichzeitig großen Luxus mit sich: Auf jedem Stockwerk des Wohnhauses für 16 Mietparteien befanden sich Müllschlucker. In den simplen Klappenmechanismus auf den Fluren des 1961 erbauten Hauses passte jeweils das Volumen von ungefähr zwei Schuhkartons. Beim Schließen der Klappe rauschte der Müll durch einen kaminartigen Schacht ins Kellergeschoss, wo er in einen 1,1-Kubikmeter-Container mit Gummirollen fiel. Es war Aufgabe des Hausmeisters, den vollen Blechcontainer jeweils gegen einen leeren auszutauschen. Dies gelang ihm meistens rechtzeitig, bisweilen aber auch nicht, was man dann aufgrund seines lautstarken Fluchens, das sich durch den Müllschacht in alle Etagen verteilte, gut verfolgen konnten.

Episode 5 – Das integrierte Messsystem

Umzug in die Vorstadt im Jahr 1995. Hier waren noch blecherne Rundmülltonnen im Einsatz, jedoch mit größerem Fassungsvermögen. Bald jedoch wichen diese auch hier den modernen 240-Liter-Behältern nach EN 840. Doch die wohlhabende Gemeinde im Speckgürtel der großen Stadt wollte schon in den Neunzigerjahren des letzten Jahrhunderts Hightech einführen, und so wurde bereits damals an jede der neuen Mülltonnen ein RFID-Chip genietet. Aber nicht genug: Neben dem Lesegerät für die Transponder war das Müllauto auch mit Ultraschall-Sensoren ausgestattet. Diese sollten bei jeder Mülltonne vor und nach dem Entleeren eine Messung der Füllhöhe vornehmen. Die Differenz beider Messungen war folglich die Müllmenge, die entleert worden war – und für die der Besitzer nun auch mengenabhängige Müllgebühren zu entrichten hatte.

Die dramatischen Folgen des neuen Kostenmodells zeigten sich bereits nach kurzer Zeit: Am Abend, bevor die wöchentliche Entleerung der Mülltonnen austand, waren plötzlich in der gepflegten Einfamilienhaussiedlung bis dahin völlig ungekannte Geräusche zu vernehmen. Diese setzten stets bei Einbruch der Dunkelheit ein und klangen wie ein dumpfes Pochen oder Stampfen. Der Leser ahnt es vermutlich bereits: Es handelte sich um nichts anderes als die Bewohner der Siedlung, die mit Gummistiefeln in ihren offenen Mülltonnen herumsprangen. Man zahlte ja jetzt nach Volumen, und da wollte man eben dieses Volumen doch so gering wie irgend möglich halten …

Ja, es gab in der Folgezeit einige Verletzte, die aus ihren umgekippten Mülltonnen gefallen waren. Obendrein erwies sich die Messeinrichtung im Müllfahrzeuge als weniger genau, als der Hersteller versprochen hatte, was zu regelmäßigen Reklamationen aus der Bürgerschaft führte. Und so wechselte man schon nach einer sehr überschaubaren Zeit wieder zu einem pauschalen Müllgebührenmodell.

Episode 6 – Aufkleber und Banderolen

Ein weiterer Umzug, diesmal richtig aufs Land, wo noch ein analoges, jedoch durchaus komplexes Müllgebühren-Verwaltungsmodell existiert:

  1. Es gibt Abfallbehälter für vier verschiedene Abfallgruppen: Papier, Biomüll, Verpackungen mit grünem Punkt und schließlich Restmüll.
  2. Papier, Biomüll und Restmüll werden in Tonnen gesammelt, die Kunststoffverpackungen in dünnhäutigen, gelben Plastiksäcken.
  3. Jeder Haushalt ist verpflichtet, eine Restmülltonne vorzuhalten. Hierbei kann man – je nach Bedarf – aus verschiedenen Tonnengrößen zwischen 60 und 240 Litern Inhalt wählen.
  4. Die Restmülltonne ist für jedes Kalenderjahr mit einer neuen Jahresgebührenmarke zu versehen, die auf den Deckel aufgeklebt wird. Dies erfolgt je nach Charaktereigenschaften des Müllgebührenpflichtigen nach drei unterschiedlichen Methoden:
    Der Stapler
    klebt die neue Gebührenmarke bei Jahreswechsel jeweils genau auf die Marke des Vorjahres, wodurch im Laufe der Jahre ein stattlich-erhabenes Polster von Gebührenmarken entstehen kann.
    Der Kreative
    sucht sich stets eine noch freie Stelle auf dem Mülltonnendeckel, wo er die neue Gebührenmarke befestigt. Da die Farbe der Marken jährlich wechselt, entsteht so ein bunter Tonnendeckel, der der Mülltonne hohe Individualität und Wiedererkennbarkeit garantiert.
    Der Pedant
    entfernt in der Silvesternacht sorgfältig den Gebührenaufkleber des vergangenen Jahres nebst sämtlichen Klebstoffrückständen und befestigt die neue Marke an der gleichen Stelle makellos und blasenfrei.
    Selbstverständlich unterscheiden sich die Jahresgebührenmarken nicht nur in jedem Kalenderjahr, sondern auch je nach Größe der verwendeten Mülltonne – ebenso wie die zu entrichtenden Gebühren.
  5. Zusätzlich zur Jahresgebührenmarke ist für jede Entleerung eine Gebührenbanderole an einem der beiden Griffe des Mülltonnendeckels zu befestigen. Auch die Entleerungsbanderolen unterscheiden sich in Farbgebung und Preis je nach Tonnenvolumen. Sie können im Rathaus der Gemeinde in Blocks zu je zehn Banderolen erworben werden. Bei der noch weitgehend manuellen Entleerung entfernen die Entsorgungsfachkräfte die Banderole vom Deckelgriff und werfen sie ebenfalls ins Müllauto.
  6. Papiertonnen haben stets ein Volumen von 240 Litern. Sie werden den Haushalten gebührenfrei zur Verfügung gestellt, ebenso fallen keine Kosten für die Entleerung an. Offenbar handelt es sich bei Altpapier immer noch um einen wertvollen Rohstoff.
  7. Die Biotonne ist für einen Haushalt nicht verpflichtend. Erklärt man, dass man seine organischen Abfälle selbst kompostiert, dann kann man auf den großen, braunen, besonders in den Sommermonaten nicht immer wohlriechenden Behälter auch verzichten. Biotonnen sind wie die Papiertonnen auch nur in einer Einheitsgröße verfügbar, müssen aber wie die Restmülltonnen mit einer Jahresgebührenmarke versehen werden. Weitere Kosten pro Entleerung fallen jedoch nicht an.
  8. Gelbe Säcke erhält der Müllbürger rollenweise auf der Gemeindeverwaltung. Die zuständige Behördenmitarbeiterin bittet dabei stets um Entschuldigung für die schlechte Qualität der Säcke, die nur allzu leicht reißen, worauf man aber keinen Einfluss habe. Man solle doch lieber gleich zwei Rollen Säcke mitnehmen, dann könne man jeweils zwei Säcke ineinander stecken, was die Sache stabiler mache. Gebühren für die Gelben Säcke sind werden der Gemeindeverwaltung nicht fällig, da der Verbraucher diese ja bereits mit dem Erwerb der verpackten Produkte an das Duale System Deutschland entrichtet hat.
  9. Die Rhythmen der Abfuhrtermine unterscheiden sich ebenso wie die Wochentage, an denen abgefahren wird. Irgendwelche Regeln, wann man welchen Müllbehälter vor die Tür stellen sollte, sind nicht nachvollziehbar. Hier hilft nur ein Blick in den Müllkalender. Immerhin ist dieser seit einem Jahr auch als elektronische iCal-Datei verfügbar, die auf einer Internetseite je nach genauem Wohnort und verwendeten Tonnen individuell konfiguriert werden kann.

Episode 7 – 2018: Alles wird viel einfacher

Zugegeben, das beschriebene Entsorgungssystem mag spontan weit komplexer scheinen als das, was manche Religionen, Weltanschauungsgemeinschaften oder fernöstliche Philosophien zu bieten haben. Doch bereits für das kommende Jahr sind dramatische Vereinfachungen angekündigt: Schon ab Januar 2018 entfallen nämlich die Gebührenbanderolen für die Entleerung der Restmülltonnen. Grund hierfür dürfte jedoch weniger der Wunsch nach weniger Bürokratie oder nach der Vereinfachung der Müllentsorgung für die Haushalte sein. Vielmehr werden Papier- und Biotonnen schon seit einiger Zeit im Einmannbetrieb abgefahren. Das heißt, außer dem Fahrer sind keine weiteren Personen an Bord des Entsorgungsfahrzeugs. Ein semiautomatischer Greifarm hebt die am Straßenrand wartende Mülltonne hoch, entleert sie ins Fahrzeug und stellt sie leer wieder ab. Um so personalsparend auch den Restmüll abfahren zu können, muss wohl auf die Banderolen verzichtet werden. Denn die kann nur ein geübter Müllwerker handhaben. Aber immerhin: Ein erster Schritt ist gemacht.