Ein Schlüsselerlebnis in der Wallfahrtskirche auf der Wies war es, das Peter Jakobs zu immer kritischerer Distanz zur Kirche bewogen hat. Aber was war die Kirche damals? Der katholische Klerus war nicht nur für die Seelsorge und die Deutung des Göttlichen oder scheinbar Göttlichen zuständig, sondern übte auch umfangreiche weltliche Macht aus. Und immer wieder einmal versuchte er sich auch mehr oder weniger erfolgreich als Wirtschaftsimperium. Und genau Letzteres war die maßgebliche Intention beim Bau der Wieskirche. Geplant als Touristenziel, wenn auch als ein religiös motiviertes, war sie ein legitimer Vorläufer heutiger Freizeitparks und Belustigungsbetriebe wie Disney- oder Legoland. Und wie auch noch heute so oft, profitierte letztlich nicht derjenige vom Riesenprojekt, der es bezahlte. Ein über 250 Jahre altes Lehrstück, das zeigt, wie wenig sich doch letztlich geändert hat.
Blättern wir also einmal zurück: 1738 schenkt ein Gastwirt der Bäurin des nicht eben gut gehenden Einödhofs auf der Wies, Maria Lory, eine Christusfigur, die ausgemustert worden war, weil sie aufgrund ihrer schlechten Qualität nicht mehr für Prozessionen geeignet schien. Schon kurz darauf erzählt ihr Mann Martin Lory überall in der Gegend herum, seine Frau habe genau diese Christusfigur weinen sehen, folglich sei hier ganz offensichtlich ein Wunder geschehen. Die Geistlichen in Steingaden sind zunächst vorsichtig, schließlich ist der Lory-Bauer ein ortsbekannter Alkoholiker. Als jedoch mehr und mehr Wundergläubige auf die Wies gepilgert kommen, um die Skulptur in einer eilig zusammengezimmerten Kapelle selbst in Augenschein zu nehmen, wittert auch die Kirche ein gutes Geschäft. Schließlich will sie Lory, der mittlerweile schon mehr als Wirt denn als Bauer die Pilger beherbergt und verköstigt, nicht den Erfolg allein überlassen.
Der Abt des nahen Klosters Steingaden beauftragt schließlich 1745 den Kirchenbauer Dominikus Zimmermann mit dem Bau einer Wallfahrtskirche. Viel Geld steht mit einem Budget von 30.000 Gulden nicht zur Verfügung, und so werden die Gewölbe nicht aufwändig und traditionell aus Stein gebaut, sondern eilig mit Stuck auf zusammengenagelte Holzgerüste gekleistert. Mit den tieffliegenden Starfightern und Militärhubschraubern, die der unfachmännischen Konstruktion 200 Jahre später übel zusetzen sollen, kann damals freilich noch niemand rechnen. Der Businessplan der Geistlichen sieht damals 12.000 Pilger pro Jahr vor, die 2.000 bis 2.500 Gulden Jahresertrag aus der Wallfahrt verheißen. Allerdings muss man die Kirche schnell bauen, bevor die Wundereuphorie unter den Gläubigen und potentiellen Kunden möglicherweise wieder abreißt.
Im Schnitt arbeiten ab 1746 stets 30 Mann auf der Baustelle, und so ist die Kirche bereits nach fünf Jahren fertiggestellt. Die Baukosten sind allerdings – O Erstaunen! – explodiert: Statt der geplanten 30.000 müssen schließlich 180.000 Gulden für den Kirchen- und weitere 20.000 für den Bau der Straße in die bis dahin unwegsame Wies aufgebracht werden. Das finanzierende Kloster Steingaden ist damit de facto pleite und köchelt nur noch auf Sparflamme, bevor es von der Säkularisation im Jahr 1803 endgültig dahingerafft wird. Aber auch im laufenden Wallfahrtsbetrieb geht die Kirchenrechnung leider nicht auf. Die Pilgerzahlen bleiben weit hinter den Erwartungen zurück, so dass nur etwa 500 bis 600 Gulden pro Jahr erwirtschaftet werden können. Dem stehen allerdings jährliche Ausgaben von allein gut 2.000 Gulden pro Winter für die Heizung der Kirche und 390 Gulden für den Unterhalt der Straße gegenüber. Kein einträgliches Geschäft für die Kirche, ganz im Gegenteil.
Besser haben es da schon die Lorys, die Initiatoren des wahrhaft erstaunlichen Wunders und Förderer der Wallfahrt getroffen. Nachdem sie schon während der Bauphase das profitable Catering für die Arbeiter besorgt haben, verschaffen nun die Wallfahrer den einst armseligen Einödbauern ein mehr als gutes Auskommen und machen sie zu angesehenen Gastwirten. Und so verwundert es auch nicht, dass Franz Zimmermann, der bis dahin eher erfolglose Sohn des Kirchenarchitekten, nach dem Tod von Martin Lory im Jahr 1750 dessen Witwe Maria eilends heiratet. Schließlich soll doch der wirtschaftliche Erfolg des Projekts in der Familie bleiben. Denn auch Vater Dominikus bleibt bis zu seinem Tod auf der Wies sesshaft.
Was also blieb, war ein florierendes Projekt. Nicht florierend für die finanzierende Kirche, damals quasi entsprechend der öffentlichen Hand, die dadurch zumindest lokal in den Ruin getrieben worden war. Richtig gerechnet hatte es sich allerdings für die schlitzohrigen Initiatoren, die es damit vom Rande des Existenzminimums zu angesehenen Unternehmern brachten. Unnötig, zu erwähnen, dass die öffentliche Hand im Rahmen der staatlichen Baupflicht an Kirchen auch heute noch fortwährend für die Wieskirche tief in die Tasche greift.
Analogien zu heutigen Großprojekten, die von Bund und Ländern, von Landkreisen und Gemeinden finanziert werden, an denen aber privatwirtschaftliche Unternehmer auf Kosten der Steuerzahler profitieren, kann sich jeder selbst herstellen. Und ebenso ist die dramatische Explosion der Baukosten keine Erfindung des 21. Jahrhunderts. Vielmehr hat sie eine lange, lange Tradition, wie man an diesem Beispiel sehen kann. Deshalb sollte uns auch nicht mit Erstaunen erfüllen, wenn ein Bahnhof, eine Autobahn oder auch nur ein neusakraler Bau wie ein Rathaus plötzlich ein Vielfaches von dem kostet, was der Haushalt der Politiker ursprünglich vorgesehen hatte. Und vielleicht hätten Bund, Land und Bahn ihr Großprojekt Stuttgart 21 auch auf der grünen Wies(e) bauen sollen, wo es erst so richtig auffällt, wenn es schon fertig ist.
Die Informationen in diesem Artikel stammen größtenteils noch aus einer beeindruckenden Baugeschichtevorlesung bei Prof. Haas an der Technischen Hochschule Darmstadt Mitte der achtziger Jahre. Das Bildmotiv stammt von pipimaru, Lizenz CC-BY-SA-2.1-JP.
Peter Jakobs
Ich will doch erwähnen, daß ich zuKirche und Religion schon kritische Distanz wahre, solange ich denken kann.
Die Reise zur Wieskirche war damals nur deshalb so besonders, weil diese, offenbar trotz der billigen Bauweise, besonders prächtig ausgestattet ist, was sicher Ausdruck der Zeit, in den Augen des Jugendlichen, der ich damals war aber vor allem Ausdruck für Reichtum und Verschwendungssucht des Klerus war.
Interessante Informationen, Jens, die ich leider trotz, zugegeben nicht allzu intensiver Recherche, gestern nicht gefunden hatte. Aber – die Wies war ja auch nur ein Ausgangspunkt für meine Gedanken.
pj
Benedikt Hotze
Merke: Ein Architekturstudium an der TH Darmstadt verschafft Weltwissen. Es ertüchtigt sowohl zur Religionskritik als auch zum Blick hinter die wirtschaftlichen Kulissen von Großprojekten.
Bleibt nur die Frage, was aus dir noch alles geworden wäre, wenn du dieses Studium dann auch noch abgeschlossen hättest ;-)
Jens Arne Männig
@Benedikt Hätte ich das Architekturstudium auch über das Vordiplom hinaus noch einigermaßen ernsthaft verfolgt, dann hätte die Welt heute vermutlich einen weiteren schlechten Architekten.