Groß ist sie, die Aufregung auf Twitter und in der Blogosphäre in den letzten Tagen. Auf der einen Seite diejenigen, die sich über den Bundesverteidigungsminister ereifern, der, ganz in Stil seiner Parteifreunde und Vorgänger, beschlossen hat, nur jeweils das zuzugeben, was ihm ohnehin unausweichlich nachweisbar ist und der darüber hinaus an seinem Stuhl zu kleben gedenkt. Auf der anderen Seite diejenigen, die Revolten und Revolutionen gegen despotische Regimes von Nordafrika bis zum Golf, die freilich seit jeher von den Regierungen des freien Westens gestützt wurden, für viel wichtiger halten. Diejenigen, die nicht verstehen können, wie man sich in solchen Zeiten über Nebensächlichkeiten wie egozentrische und opportunistische Politiker interessieren kann.
Doch das, was sich gerade in deutschen Landen ereignet, dürfte für unseren Kulturraum fast eine ähnliche Tragweite haben wie der etappenweise Umsturz in den arabischen Ländern. Neu ist nicht, dass die Bevölkerung kein Vertrauen mehr in die politische Kaste hat. Neu ist, dass sich das Volk selbst von den etablierten Werten, die die Gesellschaft über Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte zusammengehalten haben, verabschiedet hat. Die aktuellen Umfragen scheinen zu belegen, dass die Beliebtheit des Verteidigungsministers durch seine jüngsten Affären, durch Fehlentscheidungen und Betrügereien, kaum gelitten hat. Wir haben doch alle schon einmal geschummelt, scheint der gemeinsame Nenner zu sein, in dem sich die Volksseele ausdrückt, die in einem obskuren Politiker einen der ihren sieht.
Damit scheint die zunehmende neoliberale Propaganda der vergangenen beiden Jahrzehnte schließlich Wirkung zu zeigen. Es ist inzwischen mehrheitliche Meinung, dass Gesetze und gesellschaftliche Konventionen keine verbindliche Wirkung für den Einzelnen haben. Tut man etwas Gutes, für eine tatsächliche oder gefühlte Allgemeinheit, Gruppe oder schlicht für sich selbst, so ist es nun selbstverständlich, sich über ehemals starre Maximen hinwegzusetzen. Zahlreiche Unternehmer sind mit derartigem Verhalten zu Erfolg und Wohlstand gekommen, während die Masse des Volkes mit einer Mischung aus Neid und Bewunderung zusah. Firmenvorstände, die es für ihr eigenes Emporkommen in Kauf nahmen, Kunden, Mitarbeitern und Investoren massiven Schaden zuzufügen, fanden fast durchgehend milde Richter, was die Bevölkerung geradezu anregte, es ihnen gleich zu tun.
Und so hält es heute eine deutliche Mehrheit zwar nicht für legal, aber dennoch für völlig legitim, wenn sich ein junger Politiker mit Fälschung, Betrug und Beziehungen an die Spitze manövriert. Der Erfolg gibt ihm ja schließlich recht. Er vermittelt die Methoden und Vorgehensweisen, die Menschen in dieser Gesellschaft nach vorn bringen, und das kann ja, dies betont auch stets die Boulevardpresse, schließlich nicht falsch sein. Die gemeinsamen Werte der Gesellschaft sind also indvidualistischen, egoistischen Werten gewichen, Kollateralschäden werden akzeptiert, ja für unausweichlich gehalten. Einer Gesellschaft aber, die sich von ihren gemeinsamen Werten verabschiedet hat, ist ein Großteil ihrer eigenen Existenzberechtigung abhanden gekommen. Immer wieder in der Geschichte brachen solche Gesellschaften zusammen und wichen, nach auf sie folgenden Zeiten der Anarchie und des Schreckens, neuen Formen des Zusammenlebens.
Wurden Länder oder Nationen von Politikern geführt, die Recht und Gesetz beugten und denen die Bevölkerung auch schon gern einmal ihre kriminelle Vergangenheit verzieh, dann wurden solche Regierungsformen einige Jahre später noch stets als despotische Regimes oder gar als Diktaturen bezeichnet. Dies ist der Weg, den die Mehrheit der Bevölkerung heute offenbar wieder einmal zu gehen bereit ist. Vor diesem Hintergrund erscheint es durchaus sinnvoll und wichtig zu sein, auch in einer Zeit des internationalen Umsturzes die kleinen, unscheinbaren Personalien deutscher Politikerschicksale öffentlich zu hinterleuchten. Sie zeigen, dass sich das Land am Scheideweg befindet und in wenigen Jahren vielleicht schon dort sein kann, wo die arabischen Nationen sich in diesen Tagen bereits befinden.
AndreasP
Die Beschränkung auf die “deutschen Lande” greift etwas zu kurz. In Italien ist das doch bereits erheblich weiter fortgeschritten, und in Frankreich hat’s Sarkozy auch mit einer Politik versucht, die besonders harte Gesetze forderte, während er selbst Gesetze nicht achtet (der brach allerdings bei Umfragen inzwischen im Gegensatz zu Berlusconi und Guttenberg ein).
AS
Vielleicht fühlen die Menschen doch , daß es ( Guttenberg ) ein pars pro toto ist .
Seit 1982 fand ja ein “Wertewandel” statt .
Hans Lutz Oppermann
Wir sind in einer Umbruchsituation, die Veränderungen in den Maghrebstaaten können nicht spurlos an uns vorbei gehen. Heute ist der Ölpreis auf 106 $ gestiegen, 15% in den letzten Wochen. Da passiert was und wir müssen uns entscheiden, was wichtig und unwichtig ist. Und Guttenberg hat ja recht, wenn er sagt, er nicht sein so wichtig nicht und weil der Mann so omnipresent in den Medien ist und sich so wichtig macht, müssen wir uns darum kümmerns, das er entzaubert wird. Was entpuppt sich den da in den letzten 3 Tagen? Eine aufgeblähte Biografie, der Mann tut so weltgewant und hat wirklich gar keine relevante Berufserfahrung und der Mann hat eine Doktorarbeit geschrieben, die zu 70% aus Plagiaten besteht. Blödsinn sagt er selbst, mit gravierenden handwerklichen Fehlern und er hätte den Überblick verloren und dann fleht er uns an, ihm positiv anzurechnen, dass seine Entscheidung doch richtig sei, den Doktortitel deshalb zurück zu geben. Das war eine richtige Entscheidung von mir, Apllaus bricht in Kelkheim aus. Juchuh, der Mann macht was richtig. Wir müssen uns um die Stärkung der Demokratiebewegungen in den Maghrebstaaten kümmern und nicht um Guttenberg. Der hört aber erst auf sich wichtig zu machen, wenn wir ihn vor die Tür setzen und medial isolieren. Das ist jetzt wichtig, damit er aufhört uns von Wichtigem abzuhalten.
Stadtneurotiker
Mir ist die Angelegenheit zu Beginn zu hoch gehängt worden. Das lag vor allem auch an der Berichterstattung, die bis Sonntag frei von Experten aber voll von Meinungen war. Und das bockige Kind in mir wird geweckt, wenn die Kanzlerin ihren Ex-Doktor mit der Begründung “weil er ein erfolgreicher Minister” stützt. Diese Argumentation legitimiert so ziemlich alles – von der uninteressanten außerhelichen Affäre bis hin zu virulenten Kindesmisshandlung.
Bärbel
Wenn die Mehrheit der Deutschen meint, die Fälschung einer Dissertation sei eine Petitesse, dann bin ich froh, zu Minderheit zu gehören.
Mit der gleichen Argumentation könnte man die Verfolgung von Diebstählen einstellen, Mord ist schließlich wichtiger. Warum den Postboten, der sich damals als Arzt ausgab verurteilen? Schließlich ist nichts passiert und sicher gab es auch damals schon Wichtigeres.
Ein Doktortitel ist nicht nur ein Titel, sondern eine Qualifikation: Ein Ausweis der Befähigung zum wissenschaftlichen Arbeiten. Wenn Guttenbergs Beispiel Schule macht, sind bald auch IHK-Zeugnisse, Diplome und andere Befähigungsnachweise nichts mehr wert. Wollen wir das? Gute Ausbildung war immer ein Standortvorteil für Deutschland. Dieses “Asset” wird nun leichtfertig verspielt.
Und zur Lage in Nordafrika: Mir ist nicht wohl, in diesen Zeiten einen Verteidigungsminister zu haben, der einen wesentlichen Bestandteil seiner Vita gefälscht hat und der mehrfach bewiesen hat (Kundus, Gorch Fock, dass er zu Schnellschüssen neigt.