Orthopäden beobachten bei berufstätigen Frauen jungen bis mittleren Alters zunehmend ein bestimmtes Krankheitsbild, das gemäß der internationalen Klassifikation der Krankheiten als M43.99 bezeichnet wird. Es handelt sich, wie selbst der interessierte Laie leicht nachschlagen kann, um eine nicht näher definierte Deformierung der Wirbelsäule. Aufgrund ihrer Ursache wird diese in den letzten Jahren vermehrt auftretende Erkrankung von Fachleuten als Morbus Wanzl oder das Wanzl-Syndrom bezeichnet.
Kurz gefasst handelt es sich um eine typische Zivilisationskrankheit, die dadurch entsteht, dass Frauen in hochhackigem Schuhwerk in gebückter Haltung viel zu kleine, eigentlich für Kinder gedachte Einkaufswagen durch großräumige Supermärkte schieben. Natürlich kennt jeder das Problem: Am Eingang des Einkaufsparadieses seiner Wahl stellt man fest, dass man just in diesem Moment weder über einen Euro noch über eine Pfandmarke verfügt, um einen der begehrten Einkaufswagen aus der langen Reihe unter der eigens für diese errichteten Überdachung auslösen zu können.
Nicht jeder verfügt über das bewundernswerte Organisationstalent hauptberuflicher Hausfrauen und Mütter, derartige Ausrüstungsgegenstände stets in Geldbeutel oder Jackentasche vorzuhalten. Schon gar nicht befinden sich derartige Vulgaritäten im Blickfeld dynamischer Karrierefrauen, die, das Büro spät verlassend, kurz vor Geschäftsschluss noch telefonierend mit dem 3er-Cabrio auf dem Parkplatz des örtlichen Supermarkts einrollen. Diese begeben sich routiniert direkt zum Eingang des Supermarkts, wo der Marktleiter eine Art von Miniversionen der üblichen Einkaufswagen vorhält.
Freilich, eigentlich werden diese von der Konzernzentrale bereit gestellt, um Kinder, die ihre Mütter beim Einkauf begleiten, früh an die Freuden des Konsums heranzuführen. Doch für unsere kostümtragenden BMW-Fahrerinnen sind die Mini-Einkaufswagen am Markt-Entree ein gefundenes Fressen – denn sie sind ohne den leidigen Kautions-Euro zu haben. Und einmal ehrlich: Wo sollte man im schicken Gucci-Kostüm auch einen Euro auf Vorrat verstauen? Und würde nicht ein blecherner Einkaufswagenchip nur die Ablagen auf der Mittelkonsole des BMW verkratzen, was bei der Leasingrückgabe zu lästigen Komplikationen führen könnte?
Die Dame von Business eilt also um Viertel vor acht in den örtlichen Kaiser's, Edeka oder Basic und schnappt sich einen kostenlosen Kinder-Einkaufswagen. Sicherlich guten Gewissens können die heulend, weil ohne eigenen Einkaufswagen zurückgelassenen Kinder als wirtschaftlicher Kollateralschaden betrachtet werden. Denn was tun diese schon für unseren Wirtschaftsaufschwung, im Gegensatz zu unserer handytelefonierenden Führungskraft mit der perfekt sitzenden Frisur?
Doch eines hat sie übersehen, unsere Karrierefrau: Ihre Körpergeometrie, insbesondere mit den frühlingshaften 10-cm-Heels, passt kaum zur Griffhöhe des DR22 oder Tangolino von Wanzl. Und so versucht es die dynamische Lady, noch immer wichtige Geschäftsgespräche am Mobiltelefon führend, den professionellen Einhandgriff an der Fähnchenstange des Wägelchens, was jedoch stante pede mit einem Desaster im Senfregal endet. Also müssen über kurz oder lang die manikürten Hände doch wieder an die auf circa 50 cm Höhe positionierte Griffstange des Mini-Einkaufswagens – was dann eben unwillkürlich zur bereits erwähnten Problemhaltung führt.
In dieser Pose von fragwürdiger Eleganz führt der Parcours vom Tomaten-Single-Pack zur Lätta, von der folierten Du-darfst-Pute zur Cola light und vom Single-Gericht in der Tiefkühltruhe noch schnell zum Kosmetikregal. Und bis um drei vor acht, die Kunden wurden bereits zweimal über Lautsprecher aufgefordert, den Laden doch bitte endlich zu verlassen, die Kasse schließlich erreicht wird, ist unsere Elle-Leserin noch zweimal mit den Hochhackigen umgeknickt und einmal auf einem am Boden zerschlagenen Ei ausgerutscht.
Die Kassiererin wird eher beiläufig erledigt, denn das Handy schrillt gerade schon wieder aufs Neue. Das Bezahlen erfolgt höchst elegant mit der Kreditkarte, die, fast wie in der Fernsehwerbung, aus einem nicht näher definierbaren Kleidungsstück hervorgezaubert wird. Der Kinder-Einkaufswagen – Sie erinnern sich? Dies ist ein Enthüllungsartikel über die Eigenheiten und Gefahren von Kindereinkaufswagen – bleibt achtlos im Eingangsbereich des Supermarkts zurück, während unsere Art Directrice oder Vorstandsassistentin mit ihrer gut gefüllten Plastiktüte zurück zum offenen Sechszylinder eilt.
Was jedoch bleibt, ist der verbogene Rücken, zermalmte Bandscheibenkanten, eine unnatürliche Kopfhaltung, überdehnte Bänder, vulgo: Der Morbus Wanzl, die Krankheit, unter der unsere gesamte Volkswirtschaft zunehmend dahinsiecht. Denn wenn auch die jungen Karrierefrauen und Managerinnen mittleren Alters allesamt privat versichert sein mögen: Ihre Arbeitgeber und deren Unternehmen werden leiden, wenn ihre besten Mitarbeiterinnen wegen Kur- und Reha-Aufenthalten wochen-, ja monatelang ausfallen. Dabei hatte es der freundliche Marktleiter doch so gut gemeint, als er die lustigen, bunten Kindereinkaufswagen aus Draht und Plastik anschaffte.
Frank
Wie immer mit einer Akkuratesse beobachtet, die ihresgleichen sucht. Nur ein Detail stimmt nicht: Die beschrieben Zielgruppe fährt mitnichten BMW-Sechszylinder, sondern Mini. Und obwohl es den (wie den BMW) mit Automatik geben würde, wird er natürlich mit Handschaltung gekauft. Die verunmöglicht zwar zuverlässig einen zumindest näherungsweise fachgerechten Umgang mit dem Fahrzeug bei gleichzeitiger Benutzung des iPhones (für das es natürlich auch eine Freisprecheinrichtung gäbe, die aber natürlich nicht gekauft wird, denn wer braucht das schon) – aber das ist der angepeilten Zielgruppe – wie so vieles in ihrem Leben – augenscheinlich egal.