Frustra fit per plura, quod potest fieri per pauciora.
(Wilhelm von Ockham, ca. 1285–1347)
Der Engländer William mochte es offenbar schlicht und geradlinig. Schon früh wurde der Mann aus dem Dorf Ockham südöstlich von London Mitglied des Franziskanerordens, der sich dem einfachen Leben und der Armut verschrieben hatte. Sein Studium der Theologie in Oxford schloss er vermutlich nicht ab, was ihn jedoch nicht hinderte, im Laufe seines weiteren Lebens zahlreiche Schriften zu Theologie, Philosophie, Logik und Politik zu verfassen. Offenbar fanden seine Werke auch große Aufmerksamkeit, genug zumindest, um ihm den Vorwurf der Ketzerei, einen langwierigen Prozess und schließlich die Exkommunikation durch die Kirche einzubringen. Immer wieder taucht in den Werken des William oder Wilhelm von Ockham das Streben nach einfachen Lösungen auf. Es ist unnötig, etwas mit mehr zu machen, wenn man es auch mit weniger machen kann, formuliert er beispielsweise das, was von Philosophen des 19. Jahrhunderts schließlich als Ockhams Rasiermesser bezeichnet wird und sich bis heute in Slogans wie Less is more oder dem KISS-Prinzip erhält.
Es ist nicht bekannt, ob Norbert Riedel sich jemals mit den Theorien des Franziskanermönchs aus Ockham auseinandergesetzt hat. Ganz offensichtlich ist es jedoch, dass ihn ebenfalls die Suche nach dem Einfachen, Zweckmäßigen und Effizienten antrieb. Vielleicht nicht aus der Begeisterung, sondern aus der Notwendigkeit heraus. Denn bereits zwei Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs gründet Riedel im fränkischen Muggendorf seine Riedel Motoren AG. Der Maschinenbauingenieur, der als junger Mann schon durch die Entwicklung eines Aufsehen erregenden Startermotors für Strahltriebwerke aufgefallen ist, entwickelt mit einem kleinen Team ein Leichtmotorrad, mit dem er die Mobilität im am Boden liegenden Deutschland wieder anzukurbeln hofft. Dabei ist Riedel äußerst optimistisch: Während der Alliierte Kontrollrat ein Verbot der Produktion von Krafträdern über 60 Kubikzentimeter Hubraum verhängt hat, testet er bereits seine 100-cm³-Prototypen bei heimlichen Fahrversuchen.
Und Riedel pokert richtig: Ab Frühjahr 1948 dürfen in Deutschland wieder Motorräder bis 250 cm³ verkauft werden, und ein gutes Jahr später läuft schließlich in Immenstadt im Allgäu die Serienfertigung der Riedel R 100, nach dem Produktionsstandort Imme genannt, an. Was die Händler und Kunden zu sehen bekommen, ist ebenso futuristisch wie schick und zweckmäßig. Da die Rohstoffe für die Motorradproduktion noch immer schwer zu beschaffen sind, ist die gesamte Rahmenkonstruktion einheitlich aus 40-mm-Stahlrohr gefertigt. Als geradezu revolutionär präsentiert sich die einseitige Radaufhängung, bei der das Vorderrad an einer einarmigen, gefederten Parallelogrammgabel befestigt ist. Hinten kommt eine so genannte Triebsatzschwinge zum Einsatz, bei der Hinterrad, Schwinge, Getriebe und Motor eine statische Einheit bilden. Gleichzeitig dient das 40-mm-Rohr der Schwinge auch noch als Auspuffrohr: Effizienz auf die Spitze getrieben.
Der kombinierte Motor-Getriebeblock der Imme stellt ein Wunderwerk für sich dar. Mit einer Leitung von 3,31 kW setzt der kleine Zweitakter neue Maßstäbe. 45 PS pro Liter Hubraum, das ist zuvor noch nie da gewesen. Die Kurbelwelle ist fliegend, das heißt einseitig gelagert. Zylinder und Kopf sind aus einem einzigen Stück Leichtmetall mit eingesetzter Gleitbuchse gegossen. So kann auf eine Zylinderkopfdichtung verzichtet werden, und zweitakttypische Undichtigkeiten werden von Anfang an vermieden. Über Zahnräder gibt der Motor seine Kraft an eine Mehrscheibenkupplung, von dort an ein Dreiganggetriebe ab. Auf einen Leerlauf wird zugunsten einer einfachen Getriebekonstruktion ganz verzichtet. Soll der Motor der R 100 im Stand laufen, so kann der Kupplungsgriff einfach mit einem kleinen Drahtbügel in angezogener Stellung fixiert werden.
Trotz des durchgehenden konstruktiven Pragmatismus stellt sich die Imme als schickes und für ihre Zeit ungewöhnlich elegantes Fahrzeug dar. Insbesondere der stromlinienförmige Motorblock mit den verchromten Vergaser- und Schwungradverkleidungen vermag bis heute zu begeistern. Der schlanke Tank fasst genug Treibstoff, um bei normaler Fahrweise 300 km ohne Tankstopp zurückzulegen. Und bei all dem bringt das Fahrzeug vollgetankt gerade einmal 69 kg auf die Waage. Für 775 Mark ist im Erscheinungsjahr die Standardversion zu haben, für 850 Mark die etwas schicker ausgestattete Exportversion. Beliebtestes Zubehör: Ein Reserverad, das sich dank identischem Vorder- und Hinterrad universell einsetzen und mit drei Schrauben schnell wechseln lässt. Die Kfz-Steuer schlägt 1950 mit 12, die Haftpflichtversicherung mit 13 Mark jährlich zu Buche. Selbst in den kargen Nachkriegsjahren rückt damit ein eigenes Motorrad für weite Bevölkerungskreise in greifbare Nähe.
Auch die Fachpresse ist begeistert: Handlichkeit, Kurvenlage und Weichheit beider Federungen verdienen ein hohes Lob, jubelt beispielsweise die Motor Rundschau ob der überzeugenden Technik, und weiter: Die Imme fährt sich bei jeder Geschwindigkeit anstandslos freihändig! Eine Langstrecke durch Eifel, Westerwald und Taunus meistern die Tester mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von knapp 55 km/h, kaum weniger also, als bei den Straßenverhältnissen 60 Jahre später mit einem Porsche Cayenne machbar sind. Entsprechend greifen die umworbenen Kunden bei der R 100 eifrig zu. Bis zu 1.000 Maschinen verlassen die Produktionshallen monatlich. Doch wie einige exzellente Konstrukteure vor ihm ist Norbert Riedel zwar ein begnadeter Ingenieur, seine kaufmännischen Fähigkeiten als Vorstand einer Aktiengesellschaft halten jedoch den Ansprüchen nicht stand. Bereits gut eineinhalb Jahre nach Produktionsbeginn hat die Riedel Motoren AG Verbindlichkeiten in Höhe von 1,25 Millionen Mark aufgehäuft und muss Insolvenz anmelden. Nach etwa 12.000 produzierten Exemplaren geht die Ära der genial-einfachen Imme damit bereits wieder zu Ende. Pläne für ein größeres Motorrad und einen Roller gehen nicht mehr in Serie, da die Gesellschaft aufgelöst wird.
Riedel findet schnell wieder eine Beschäftigung als angestellter Konstrukteur und sorgt noch für mehrere interessante Modelle der Nürnberger Hersteller Triumph und Victoria. Im Alter von erst 51 Jahren stirbt der Mann, der den Minimalismus in die Volksmotorisierung bringen wollte, bei einem Lawinenunglück am Arlberg – gerade einmal 150 Kilometer von München entfernt, wo Wilhelm von Ockham die letzten 20 Jahre seines Lebens unter dem Schutz des liberalen Kaisers Ludwigs IV. des Bayern gelebt und seine Werke über das Sparsamkeitsprinzip veröffentlicht hatte.
Stahl
Hallo, wieder einmal ein sehr gelungener Artikel!
MfG