Jahrelang haben nationale und europäische Parlamente, Lobbyisten und Verbraucherschützer diskutiert. Nun endlich hat sich also das Europaparlament in zweiter Lesung für eine einheitliche Kennzeichnung von Lebensmittel-Inhaltsstoffen ausgesprochen. Das weitere Verfahren scheint lediglich eine, wenn auch langwierige, Formalität zu sein. Die geplanten Vorgaben, die in nationales Recht umgesetzt werden müssen, stellen sicherlich eine Verbesserung dar. Als ideal für den Verbraucher sind sie allerdings kaum zu bezeichnen, da die Handschrift der Lebensmittelindustrie deren Interessen in der EU-Verordnung Nr. 182/2011 (siehe Fußnote) doch allzu deutlich hinterlassen hat. Die Lebensmittelkonzerne werden daher auch bis mindestens zum Jahr 2016 Zeit haben, die neuen Vorgaben umzusetzen.

Was bei all diesem Aufwand wundert: Warum stellen die EU-Staaten ihren Bürgern nicht einfach die neutralen, sachlichen und inhaltlich richtigen Lebensmitteldatenbanken zur Verfügung, die heute bereits vorhanden sind und die von den Staaten selbst mit hohem Aufwand aufgebaut wurden? Warum diskutiert man statt dessen Jahrzehnte mit der Lebensmittelindustrie, um letztlich eine Minimallösung zu beschließen, die nicht im Sinne der Bürger und schon gar nicht im Sinne der Volksgesundheit sein kann? Warum lässt man den seit Jahren erkennbaren und riskanten Trend zu Adipositas und Typ-2-Diabetes sich unverändert weiterentwickeln, statt die Bevölkerung jetzt über richtige Ernährung zu informieren und ihr das erforderliche Wissen an die Hand zu geben?

In Deutschland stehen diese Daten beispielsweise in Form einer Datenbank mit dem sperrigen Namen Bundeslebensmittelschlüssel zur Verfügung. Der Datenbestand beinhaltet die Nährwerte und Inhaltsstoffe von über 10.000 Lebensmitteln, und er wird regelmäßig erweitert. Sowohl Frischwaren als auch Rezepturen, Zubereitungen und im Handel erhältliche Fertigwaren sind im Bundeslebensmittelschlüssel enthalten, wobei für jedes einzelne Produkt 138 unterschiedliche Kennzahlen hinterlegt sind. Dabei wurden etwas mehr als 1.100 Lebensmittel detailliert untersucht und analysiert, die Inhaltsstoffe aller weiteren Produkte werden mit komplexen Algorithmen auf deren Basis errechnet.

Die umfangreiche Datenbank wurde bei der Bundesforschungsanstalt für Ernährung und Lebensmittel entwickelt. Seit 2008 firmiert diese staatliche Einrichtung als Max-Rubner-Institut. Als Bundesoberbehörde ist sie dem Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz direkt unterstellt. Die mit Steuergeldern erstellte Datenbank mag die Behörde dennoch nicht so ohne weiteres den Steuerzahlern zu deren Verwendung überlassen. Vielmehr sieht man diese beim staatlichen Institut als Profitcenter und hat daher komplexe Lizenzierungsmodelle entwickelt. Ein Einzelanwender hat für die Nutzung der Daten des Bundeslebensmittelschlüssels 100 Euro zu entrichten, wobei er für diesen stolzen Betrag lediglich die Rohdaten im Textformat erhält. Daneben sind Mengen- und Serverlizenzen erhältlich.

Dass die Behörde mit diesen Daten ein erfolgreiches Geschäftsmodell aufbauen konnte, scheint eher unwahrscheinlich. Wie viel sinnvoller wäre es da doch, die Daten in einer auch vom Laien verständlichen Form aufzubereiten und sie der Bevölkerung, beispielsweise in Form eines Internetportals, kostenlos zur Verfügung zu stellen. Damit gäbe man dem Bürger eine verlässliche und umfangreiche Wissensdatenbank an die Hand, die ihn von den subjektiven Informationen der Lebensmittelhersteller auf Produktverpackungen weitgehend unabhängig machen würde. Es steht allerdings zu befürchten, dass eine derartige Möglichkeit von Ministerien und Behörden bislang noch nicht einmal erwogen wurde.

Eine Frage der Zuständigkeiten: Während eine so wichtige Informations- und Bildungsmaßnahme sicherlich im Interesse des Bundesministeriums für Gesundheit läge, vertritt das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz trotz seines breitgefächerten Namens traditionell eher die Interessen der Landwirtschaft und der Lebensmittelproduzenten. Vor diesem Hintergrund stellt natürlich zu viel Wissen und zu viel Selbstbestimmtheit des Verbrauchers eher ein Problem dar. Und so muss der Bürger eben leider auf die elementaren Informationen über Lebensmittel, die von seinen Steuergeldern recherchiert wurden, verzichten. Zumindest so lange, bis auf Druck der EU zumindest halbwegs brauchbare, wenn auch nur äußerst sparsame Informationen zu Inhaltsstoffen auf den Lebensmittelverpackungen selbst zu finden sein werden – in voraussichtlich etwa fünf Jahren.

Wer bis dahin neugierig ist, welcher Energiegehalt, welche Vitamine, Mineralien, Ballaststoffe, Fette und Aminosäuren sich in einem Lebensmittel verbergen, der muss sich zwangsläufig bei einem zahlenden Lizenznehmer des Max-Rubner-Instituts bedienen. Fündig wird der Ernährungsinteressierte beispielsweise auf der Webseite Das Kochrezept. Hier kann er sowohl in einem Lebensmittelkatalog als auch per Stichwort suchen. In den meisten Fällen genügt für die wichtigsten Informationen die gelieferte Kurzübersicht. Mit etwas mehr Forschergeist finden sich jedoch unter dem Stichpunkt Zusammensetzung noch weit detailliertere Werte. Das Manövrieren zwischen Suche und Ergebnissen ist dabei leider nicht sonderlich komfortabel.

Bleibt also zu hoffen, dass der Staat eines Tages die Daten, die ohnehin seinen dafür zahlenden Bürgern und Verbrauchern gehören sollten, nicht weiter als Staatsgeheimnis hortet, sondern sie endlich in gut aufbereiteter, verständlicher Form der Öffentlichkeit zur Verfügung stellt. Damit wäre den Ernährungsinteressierten weit mehr geholfen als mit minimalistischen Etiketteninformationen, die hauptsächlich den Interessen der Lebensmittelindustrie dienen.

 

Der Volltext der geplanten Verordnung (EU) Nr. 182/2011 ist im Protokoll der angenommenen Texte der Sitzung des Europäischen Parlaments vom 6. Juli 2011 abrufbar. Wie alle Arbeitstexte des EU-Parlaments ist dieses 1,2 MB große Dokument im Microsoft-Word-Format verfügbar. Der Verordnungstext ist ab Seite 59 zu finden.