Männig

Kartell

Ein Kartell, so lehrten es die Wirtschaftslehrbücher der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts in ganz neutraler Formulierung, ist ein vertraglicher horizontaler Zusammenschluss von Unternehmungen, die rechtlich selbständig bleiben, sich jedoch zu gemeinsamem Handeln verpflichten. Doch der Begriff ist schon viel älter: Als Kartell, so weiß es das ab 1838 entstandene Deutsche Wörterbuch der Gebrüder Grimm, bezeichnete man früher im Turnierwesen die Festsetzung der Kampfregeln zwischen den Gegnern, aber auch im Kriegswesen Verträge zwischen den kriegführenden Theilen, allerhand gegenseitige Beziehungen betreffend.

Doch die Bedeutung des Wortes hat sich gewandelt. Immer wieder hatten sich Unternehmen in Kartellen zusammengeschlossen, um den Markt unter sich und entsprechend ihrer Interessen aufzuteilen. Unter diesen Zusammenschlüssen litten stets die anderen Marktteilnehmer. Kleinere Wettbewerber konnten mit den Vertragsbedingungen der mächtigen Kartelle nicht mithalten, Kunden oder Verbraucher hatten höhere Preise zu zahlen und schlechtere Konditionen zu akzeptieren. Bekannte marktbeherrschende Zusammenschlüsse in der deutschen Industrie waren beispielsweise das Rheinisch-Westfälische Kohlen-Syndikat oder die I.G. Farben in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts.

Doch aus den Fehlern hatte die Politik gelernt, und so wurde in der jungen Bundesrepublik Deutschland bereits mit Wirkung zum 1. Januar 1958 das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen beschlossen, das Kartelle in der Wirtschaft fürderhin schlichtweg verbot. Schon zwei Wochen später wurde dann, in bekannter deutscher Gründlichkeit, auch eigens eine Behörde gegründet, die die Einhaltung des Gesetzes künftig überwachen sollte. Heute beschäftigt das Bundeskartellamt 320 Bedienstete, die geplante Zusammenschlüsse von Unternehmen peinlich genau überwachen und regelmäßig untersagen, um die Interessen der Bürger und den freien wirtschaftlichen Wettbewerb zu schützen.

Doch gibt es Kartelle, die ein aktueller Wikipedia-Artikel, ganz im Trend der Zeit, auch als organisierte Kriminalität oder verbündete Boshaftigkeit erklärt, wirklich nur in der Wirtschaft? Weit gefehlt! Im digitalen Brockhaus des Jahres 2002 findet man nämlich noch den folgenden Eintrag:

Kartell
[franzšösisch] das, Politik: früher Bezeichnung fŸür ein von Parteien
oder Verbänden geschlossenes BüŸndnis zur Erreichung eines gemeinsamen
Ziels; im heutigen Sinne ein VorlŠäufer der Koalition.

Koalitionen in der Politik sind also nichts anderes als Kartelle. Hier treffen allerdings nicht Wirtschaftsunternehmen, sondern Parteien Absprachen, um ihren Organisationen in gemeinsamer Stärke Vorteile zu verschaffen. Absprachen, die nur in manchen Fällen schon vor Wahlen getroffen und veröffentlicht werden. Oft jedoch warten die Parteiverantwortlichen zunächst lieber das Wahlergebnis ab, bevor sie sich in konkrete Koalitionsverhandlungen begeben. In diesen Verhandlungen müssen dann politische Zugeständnisse gemacht werden. Und plötzlich stellt der Bürger fest, dass die Partei, die er gewählt hat, gar nicht mehr die Ziele verfolgt, aufgrund derer sie seine Stimme einmal bekommen hat.

Eine Vorgehensweise zum Vorteil des Bürgers? Wohl kaum. Eher schon ein tradiertes System zum Erhalt der Macht der Parteien. Ein System, dass die Interessen der Organisationen sichert, die gemäß Artikel 21 Abs. 1 des Grundgesetzes lediglich an der politischen Willensbildung mitwirken. Der Wille des eigentlichen demokratischen Souveräns, des Bürgers, muss derweil hinten anstehen, ja wird unter Umständen schlicht ignoriert. Ein Ausweg aus dieser misslich-undemokratischen Lage ist aber nicht in Sicht: Kaum werden die Parteimitglieder in den Parlamenten jemals die strengen Maßstäbe, die sie für Wirtschaftsunternehmen gesetzt haben, auch bei ihren eigenen Organisationen anlegen.

Doch diese Problematik beschränkt sich bei Weitem nicht nur auf Koalitionsfragen. In jüngerer Zeit unterwerfen Parteien ihre Ausrichtung zunehmend zielgruppenorientierten Marketingstrategien, um ihre Wahlerfolge zu sichern. Man positioniert sich mit Hilfe externer Marketingberater und PR-Agenturen in dem Segment, in dem man das größte Wählerpotenzial erwartet. Die klassischen Werte und das gesellschaftliche Engagement der Parteien, größtenteils nach 1945 auf Grundlage der Erfahrungen im Nationalsozialismus und aus der Weimarer Zeit gegründet, sind zugunsten der besseren Vermarktbarkeit längst auf der Strecke geblieben.

Der Trend scheint jedoch unumkehrbar: Kaum werden sich die Parteien, die längst die ausschließliche Macht im Staat übernommen haben, eines Tages in einer Anwandlung von Bürgerfreundlichkeit selbst entmachten und von den gewohnten taktischen zu pragmatischen Sachentscheidungen übergehen. Elemente der direkten Demokratie, die das Parteiensystem bedrohen könnten, werden so weit irgend möglich von der Übermacht der Parteien in den Parlamenten abgeschmettert. Wählervereinigungen, die sich die Entmachtung des Parteienapparats auf die Fahnen geschrieben haben, scheitern an der nicht zuletzt zu diesem Zweck geschaffenen Fünf-Prozent-Hürde.

Und so bestimmt es also weiterhin über das, was im Land vor sich geht, das Kartell der Parteien. Und oft vertritt es dabei andere Interessen als die der Bürger, der Wähler. Eine Kontrollinstanz über die Absprachen und die Macht der Parteien, so wie sie diese für den Bereich der Wirtschaft mit dem Bundeskartellamt geschaffen haben, dürfte aber auf absehbare Zeit kaum in Sicht sein.