Madonnenländchen ist der Begriff, der für den Landstrich zwischen Main und Neckar, zwischen Odenwald und Tauber von den Dokumentatoren des Volksbrauchtums geprägt und der von den Fremdenverkehrsverantwortlichen nur allzu gern weitergetragen wurde. Spötter allerdings bezeichnen die Region in Anlehnung an das ehemalige, örtliche Autokennzeichen BCH als Besonders Christliches Hinterland. Wie auch immer, Landschaft und Dörfer sind geschmückt mit Marienbildern und -säulen, von Bildstöcken, Feldkreuzen, Kirchen und Kapellen. Die Region ist überwiegend katholisch geprägt, jedoch immer wieder mit Dörfern durchsetzt, in deren Ortskirche ein lutherischer Pfarrer predigt. Das alte Prinzip Cuius regio, eius religio hat sich hier besonders deutlich manifestiert: Während die ehemals zu Kurmainz gehörenden Städtchen und Gemeinden bis in die jüngste Zeit katholisch orientiert blieben, sind die Ortschaften, in denen die Familie Rüdt von Collenberg den Ortsadel stellte, nach wie vor von evangelischen Traditionen geprägt.
Die zunehmende Säkularisierung seit Ende des Zweiten Weltkriegs hat jedoch auch in diesem, seit dem frühen 19. Jahrhundert zu Baden gehörenden Landstrich deutliche Spuren hinterlassen. So beschränken sich heute die Animositäten zwischen katholischen und protestantischen Dörfern zumeist auf ein folkloristisches Niveau, und interkonfessionelle Ehen sind heute selbst in dieser so traditionsreichen Region an der Tagesordnung. Fast gänzlich verloren gegangen ist gleichzeitig die Tradition der Stiftung von Bildstöcken. Die wenigen Wegkreuze neueren Datums gemahnen auch im hinteren Odenwald fast ausnahmslos an die Unbilden des modernen Straßenverkehrs und an die Tatsache, dass selbst moderne Kraftfahrzeuge unter dem Einfluss von Alkohol nur schwerlich zu bändigen sind.
Umso mehr erstaunt es da, dass ausgerechnet in der Nähe der beschaulichen 1000-Seelen-Gemeinde Bödigheim ein zwar äußerst schlichter und kompakter, jedoch international beachteter und erlebenswerter Sakralbau entstanden ist. Auf Initiative des örtlichen, hier evangelischen Pfarrers entwarf und baute eine Gruppe amerikanischer Architekturstudenten um Professor Frank Flury vom Illinois Institute of Technology die ökumenische Flurkapelle, die sich heute auf der Anhöhe zwischen Bödigheim, Seckach und Großeicholzheim erhebt. Unterstützt wurden sie dabei von der Buchener Architektin Dea Ecker und einer ganzen Reihe von Förderern und Sponsoren. Zwischen den ersten Ideen und der Segnung des modernen Holzbaus lagen dabei gerade einmal eineinhalb Jahre.
Trotz ihrer exponierten Lage ist die Bödigheimer Flurkapelle für Ortsfremde nicht ganz einfach zu finden und zu erreichen. Mit dem Auto von Bödigheim in Richtung Seckach fahrend, biegt man am besten nach dem Sägewerk, aus dem auch ein Großteil der Baustoffe der Kapelle stammt, rechts ab und parkt dort. Zu Fuß folgt man zunächst der Beschilderung Skulpturenradweg Richtung Süden und nimmt dann, nach etwa 400 Metern, den ansteigenden Weg nach rechts. Nach gut 600 weiteren Metern hat man sein Ziel erreicht.
Der leichte Holzbau der Flurkapelle ruht auf einem dunkel verklinkerten Sockel. Ein Quadratraster mit einer Weite von 3,30 Metern macht das Objekt leicht erfassbar: Zehn Quadratmeter für den befestigten Vorplatz, zehn für den dachlosen Vorraum und weitere zehn für den Andachtsraum unter dem Schutz des Turms. Die rotbraunen Klinker der Bodenplatte setzen sich dabei auch in den beiden Sitzbänken fort, von denen die im Andachtsraum mit einer einfachen, hölzernen Sitzfläche versehen ist. Im Vorraum, der ja freien Blick in den Himmel erlaubt und somit auch nicht regengeschützt ist, sitzt man direkt auf dem Klinkermaterial.
Auch die Höhen der Bauteile entsprechen annähernd dem stringenten Raster des Grundrisses: Die blickdicht verbretterten Wände von Vor- und Andachtsraum sind drei Meter hoch, der Turm über dem Andachtsraum erhebt sich um weitere sechs auf insgesamt neun Meter. Die lamellenartig schräg eingesetzten Bretter der Turmwände vereinen auf bestmögliche Weise Wetterschutz und Transparenz. Es fällt dem Betrachter zunächst kaum auf, dass sich mit zunehmender Höhe der Abstand der Lamellen auch vergrößert. Auf die Lichtverhältnisse im Turm, wie auch auf die Leichtigkeit des Baukörpers bei der Betrachtung von außen, wirkt sich dies jedoch sehr positiv aus.
Türen sucht man vergebens. Die beiden Verbindungen zwischen Außenbereich, Vor- und Andachtsraum bleiben stets offen. Die Durchgangsbreiten ergeben sich aus einem Drittel des Rasters, ihre lichte Weite beträgt also weniger als einen Meter. Die Wandöffnungen befinden sich dabei nicht in der Mitte, sondern an der Seite des Raumes und erlauben so eine bessere Nutzung der kleinen Innenflächen. Den einzigen Schmuck der Kapelle bietet ein dunkel lasiertes Triptychon aus Holzplatten, das auf seinem zentralen Element ein schlichtes, schlankes Edelstahlkreuz trägt.
Unter der Verschalung aus regional gewachsenem, unbehandeltem Lärchenholz, die seit der Erbauung im Juli 2009 im Außenbereich silbergrau geworden ist, befindet sich eine Konstruktion aus vertikalen Holzleimbindern, die auf Stahlankern ruhen. Die Diagonalaussteifungen liegen ebenfalls unsichtbar unter den Außen- und Innenverschalungen. Wie das Lärchenholz stammen auch der um die Flurkapelle aufgeschüttete Schotter und einige große Kalksteinquader, die dort als Begrenzung und Sitzgelegenheit dienen, aus regionalem Abbau. Die Klinker, die für Bodenplatte und Mobiliar Verwendung fanden, wurden von einem Bauherrn gestiftet, auf dessen nahe gelegener Baustelle sie übrig waren.
Die klare Einfachheit des kleinen Gebäudes fasziniert auf den ersten wie auch auf den zweiten Blick. Mit Spannung abzuwarten bleibt, wie die Kapelle in ihrer etwas abgelegenen Situation längerfristig mit Leben erfüllt sein wird. Überraschen lassen muss man sich ebenso, wie die Baustoffe in der wettertechnisch exponierten Lage altern werden. Und dass die Flurkapelle von Vandalismus dauerhaft verschont bleibt, kann man den Initiatoren, Gestaltern und Erbauern, wie auch allen zukünftigen Besuchern nur wünschen. Ein Ausflug ins Hinterland, der sich lohnt!
Die offizielle Webseite des Projekts, die leider mit der klaren Sachlichkeit der Feldkapelle Bödigheim selbst nicht mithalten konnte aber einige interessante Informationen bot, ist inzwischen (Stand Herbst 2014) leider wieder aus dem Netz verschwunden. Auf einen interessanten Artikel des Forums Holzbau hat Helga von Rüdt in den Kommentaren hingewiesen. Außerdem sehenswert in Bödigheim: Burg und Schloss und der jüdische Friedhof (von der Kirche aus der Straße Am Römer bergauf folgen, am Ortsausgang auf der linken Seite). Nur wenige Kilometer entfernt, auf dem Friedhof in Buchen, finden Architekturinteressierte Egon Eiermanns Grabstätte.
Benedikt Hotze
Du schreibst von „unbehandeltem Lärchenholz, [das] seit der Erbauung im Juli 2009 im Außenbereich silbergrau geworden ist“. Tatsächlich halte ich die Verwendung von unbehandeltem Holz im Außenbereich für eine Architektenmarotte. Sie begründen das gern damit, dass 200-jährige unbehandelte Holzstadel auf Alpen-Almen ja auch toll aussähen. Leider ist das für den Rest der Menschheit nicht nachvollziehbar; sie halten das verwittert wirkende Holz für einen Bauschaden. Besonders schlimm sah es bei meinem letzten Besuch beim Buchheim-Museum von Behnisch am Starnberger See aus: Da hatten sich die unbehandelten Holzlamellen über dem Eingang nicht nur silbern verfärbt, sondern auch noch kräftig verbogen.
Jens Arne Männig
In der Tat! In diese Richtung ging auch meine kleine Randbemerkung im letzten Absatz, dass abzuwarten bleibt, wie zu- oder abträglich der Alterungsprozess der Baustoffe für die Gesamterscheinung des Gebäudes sein wird. Die Erfahrung legt nahe, dass einem Bauwerk die Verwitterung seiner hölzernen Außenhülle umso mehr verziehen, ja sogar für als positives Qualitätsmerkmal betrachtet wird, je weniger geometrische Präzision einstmals bei deren Erstellung zur Anwendung kam. Anders ausgedrückt: Ein Schuppen, dessen äußere, sägeraue Schwartenbretter frei Hand hingenagelt wurden, verwittert und vergraut im Auge der Mehrheit seiner Betrachter romantisch, während die ehemals rechtwinkligen, gehobelten Holzflächen einer streng gegliederten Fassade eher als desolat wahrgenommen werden, sobald sie sich verfärben, windschief werden und verrotten.
Was ich im Falle der Bödigheimer Feldkapelle neben einem mit der Verwitterung zunehmenden barackenartigen Eindruck befürchte: Durch Spaltenbildung und Oberflächenverhärtung könnte der Witterungseinfluss auf die Holzleimbinder im Inneren der Konstruktion zunehmen, sich durch Staunässe sogar noch einmal verstärken. Und kaum etwas ist in einem alternden Bau weniger sexy als sich auffieselnde Leimbinder, wie selbst dem Laien spätestens seit Bad Reichenhall deucht.
Benedikt Hotze
Der Gedanke, dass Verwitterung umso mehr akzeptiert wird, je weniger das Bauteil geometrisch definiert ist, halte ich für sehr originell und zustimmungsträchtig. Das übermittle ich gern bei Gelegenheit in die Welt der Architekten ;-)
Was ich dir im Zusammenhang mit christlichen Kapellen allerdings nicht durchgehen lassen kann, ist der Begriff “sexy”. Aber das wusstest du ja schon vorher. Erlaubt ist IMHO maximal “liebreizend”.
Matthias Grimm
Hallo Jens,
danke für den Beitrag und die Erinnerung, dass es die Kapelle gibt. Ich habe mir erlaubt, die Erinnerung für einen Blogeintrag zu nutzen: http://blog.mag1.de/bch-badisch-christliches-hinterland
Viele Grüße aus dem Badisch Christlichen Hinterland, das hofft, irgendwann das alte Autokennzeichen wieder zurück zu bekommen – vielleicht…
Matthias
Annette Nüßle
über Matthias auf diesen interessanten Beitrag gestoßen. Danke für deine Ausführungen und deine Bilder.
Helga von Rüdt
Sehr geehrter Herr Männig, vielen Dank für Ihren Bericht über die Flurkapelle Bödigheim. Zu Ihrer Information gibt es wieder (Sie haben recht, die war zeitweise verschwunden) eine web-site, die man über
http://www.buchen.de/ueber-buchen/stadtteile/146-boedigheim.html#die-flurkapelle-bödigheim
erreichen kann. Die Kapelle wird immer wieder besucht, auch für z.B. Konfirmantenausflüge oder Hochzeittebn genutzt und einmal im Jahr findet im Sommer dort ein Gottesdienst statt. Meist im Juli. Mit freundlichem Gruß Helga von Rüdt, Schriftführerin des Freundeskreises Flurkapelle e.V.