Seit den sechziger Jahren des letzten Jahrhundert hat sich das Auto in unserem Kulturkreis und mittlerweile auch weltweit zu dem Symbol der Mobilität entwickelt. Kaum war es der Generation unserer Großeltern und Eltern wirtschaftlich irgendwie möglich, wurde ein Auto angeschafft, denn schließlich bedeutete es Freiheit und die Möglichkeit, jeden Fleck in der weiteren Umgebung schnell, bequem und auch einigermaßen preiswert zu erreichen. Zumindest verhieß dies die Werbung der Automobilhersteller und die begeisterte Automobilpresse, und überhaupt, wer war man denn schon ohne eigenes Auto?
Alternativen? Natürlich keine. Die Bahn fährt nicht dann und vielleicht auch nicht dahin, wo man mag, auf dem Motorrad wird man nass und das Fahrrad? Anstrengend und viel zu langsam. Wirklich zu langsam? Ivan Illich hat schon 1973 einen interessanten Aufsatz geschrieben, der die Geschwindigkeit von Fahrzeugen vor dem Hintergrund eines sehr interessanten Realkostenansatzes betrachtet:
Der typische Amerikaner zum Beispiel widmet seinem Auto 1.500 Stunden im Jahr: er sitzt darin, wenn es fährt oder parkt, er arbeitet, um es zu bezahlen, um das Benzin, die Reifen, die Weggebühren, die Versicherung, die Strafmandate und die Steuern zu bezahlen. Er widmet also seinem Auto vier Stunden pro Tag, ganz gleich, ob er es benutzt, sich mit ihm beschäftigt oder an ihm arbeitet. Dabei sind noch nicht einmal alle seine am Verkehr orientierten Tätigkeiten eingerechnet: Die Zeit, die er im Krankenhaus, vor Gericht oder in der Garage verbringt, die Zeit, die er damit zubringt, im Fernsehen die Automobilwerbung zu betrachten, die Zeit, die er aufwendet, um das Geld für die Ferienreisen zu verdienen usw. Dieser Amerikaner braucht 1.500 Stunden, um eine Wegstrecke von 10.000 km zurückzulegen; für 6 km braucht er also eine Lebensstunde.
(Illich, Ivan: Die sogenannte Energiekrise oder Die Lähmung der Gesellschaft; Reinbek 1974. Der Englische Originaltext Energy and Equity ist im Netz frei zugänglich.)
Die Zahlen sind im Detail sicherlich hinterfragbar und müssten vielleicht aufgrund der heutigen Kosten- und Einkommensverhältnisse fast 40 Jahre später neu kalkuliert werden. Nach Betrachtung einiger unterschiedlicher Szenarien auf der Grundlage der realen Autokosten, heute gängiger Automodelle, sowie durchschnittlicher Jahresfahrleistung, Geschwindigkeit und durchschnittlichem Nettoeinkommen, wage ich zu behaupten, dass ein Fahrrad auch heute schneller ist als ein Auto. Ich finde es ziemlich interessant, solche Verhaltensweisen allein betriebswirtschaftlich verargumentieren zu können und überhaupt keinen geistigen Ökoplüsch verteilen zu müssen. Wer mag sich also von der fest gefügten Meinung Das geht doch alles sowieso nicht, und in meinem besonderen Fall schon überhaupt nicht! einmal kurzfristig lösen und einfach vorurteilsfrei nachrechnen?
Spannend übrigens bei dieser Betrachtungsweise: Das Bahnfahren nimmt bei einem neuen, rationalen Bewegungsprofil eine interessante Sonderstellung ein: Die Bahn ist offenbar das einzige Verkehrsmittel, in dem man halbwegs produktiv arbeiten kann, also die Zeit, die man für die Fortbewegung aufbringen muss um das Geld für die Fahrkarte zu verdienen während der Fahrzeit selbst ableisten kann. Das macht die Bahn nach diesem Rechenmodell auch erstaunlich schnell. Setzt man mal das Flugzeug dagegen, dann bleibt zumindest auf Kurzstrecken nach Abzug der Verkehrsmittelwechsel, Sicherheits-, Ein- und Ausstiegszeremonien und Verbotszeiten für elektronische Geräte bei Start und Landung relativ wenig mögliche Produktivzeit übrig. Das macht den Flieger auf Kurz- und selbst auf Mittelstrecken ziemlich langsam.
Viel Spaß beim Rechnen und Nachdenken!
Achim Hennecke
Danke für den guten und – trotz der mehrere Jahrzehnte alten Berechnungen Illichs – sehr aktuellen Beitrag! Die nach meiner Erfahrung richtigen und wichtigen Überlegungen zeigen, wie wenig rational das Thema “Verkehrsmittelwahl” heute von einer Mehrheit gehandhabt wird.
Philippe
Fahrrad weils schneller ist? Ja, auch. Aber vor allem weils Spass macht. Ich würde mich nicht als Radfahrer-aus-Prinzip bezeichnen. Mir bereitet das Radfahren einfach Freude. Fahrtwind find ich super.
Bianca
Wenn ich morgens zur Arbeit radel und abends wieder zurück, fühle ich mich gut. Mein Leben ist danach ausgerichtet möglichst alles mit dem Rad (zur Not Bus/Bahn) erledigen zu können. Ein wunderbar unabhängiges Gefühl und den finanziellen Vorteil nutze ich für eine tolle Wohnung, schöne Urlaubsreisen oder nette Kleinigkeiten :)