Martinus Adrianus Stam, genannt Mart, muss ein wechselvolles und vielfältiges Leben geführt haben. Versucht man, die zahlreichen Biografien des 1899 geborenen, niederländischen Gestalters in Übereinstimmung zu bringen, dann tut man sich schon in seinen frühen Lebens- und Schaffensjahren schwer. Von einer Schreinerlehre wird da berichtet und von einem Fernstudium der Architektur. Sicher scheint zu sein, dass Stam im Alter von 18 bis 19 Jahren die Amsterdamer Rijksnormaalschool for Teekenonderwijzers, eine Zeichenlehrerschule, besucht und danach in einem Architekturbüro in Rotterdam als Bauzeichner arbeitet. Schon bald darauf wird er allerdings als Kriegsdienstverweigerer zu einer Gefängnisstrafe verurteilt.
Nach seiner Haftentlassung zieht es ihn Ende 1922 nach Berlin, wo er – je nach Quelle – unter anderem für Max Taut, Hans Poelzig und El Lissitzky arbeitet. Im Jahr darauf gelingt es ihm, auf der Bauhausausstellung in Weimar erstmals zwei eigene Architekturentwürfe zu präsentieren. Seine nächste Lebensstation ist Zürich, wo er an der Gründung einer Architekturzeitschrift beteiligt ist. Im Alter von 28 Jahren schließlich bekommt Stam die Chance, erstmals selbst einen Bau zu realisieren: Im Rahmen der Werkbund-Ausstellung Die Wohnung kann er zur unter der Leitung von Ludwig Mies van der Rohe entstehenden Weißenhofsiedlung in Stuttgart ein Reihenhaus beitragen.
Da bei der Ausstellung natürlich auch die Innenausstattung der Häuser eine maßgebliche Rolle spielt, bringt Stam zu einer Vorbesprechung im Jahr 1926 den Prototypen eines Stuhlgestells mit. Das Unikum ist aus Gasrohren in Form einer Endlosschleife zusammengesetzt und verfügt daher nicht über hintere Stuhlbeine. Wenn auch viele Veröffentlichungen die Konstruktion als geschweißt beschreiben, scheint doch zumindest die fotografisch dokumentierte Rekonstruktion des Stuhlgestells mithilfe der schon damals üblichen 90°-Gasrohrfittings aus Temperguss verschraubt zu sein.
Es deutet einiges darauf hin, dass sich Mart Stam bei der Entwicklung seines Prototyps stark von Marcel Breuers kurz zuvor erschienenen Modell B 5 inspirieren lässt und diesen in seiner Grundform konsequent weiterentwickelt. Im engen Kreis der mit dem Bauhaus verbundenen Architekten und Designer findet Stams Idee Anerkennung – und Nachahmer. Mies van der Rohe entwickelt flink den MR 10 und den MR 20, jeweils mit den charakteristisch geschwungenen Vorderstreben. Beide gehen in Produktion, noch bevor Stam seinen eigenen Entwurf öffentlich vorstellen kann. Aber auch der Ideengeber Breuer lässt sich von Stams Gedanken inspirieren und konstruiert nur wenig später seinen Stuhl mit der Bezeichnung B 55.
Im Gegensatz zu seinen Gestalterkollegen bleibt Mart Stam der strengen, kubischen Grundform treu. Beim schließlich in Serie gehenden Entwurf S 33 verzichtet er freilich auf die starren Gasrohre und die klobigen Winkelfittings des Ur-Prototypen. Aus einem Stück Stahlrohr gebogen, schwingt der Stuhl sanft unter seinem Besitzer – wie auch die Konstruktionen von Breuer und Mies van der Rohe. So hat sich dann auch der Sammelbegriff Freischwinger für Sitzmöbel mit hinterbeinlosem Grundaufbau seit vielen Jahren etabliert. Das enge Zusammenspiel der unterschiedlichen Gestalter und die wirtschaftlichen Interessen der Produzenten sorgen in der Folgezeit zu einigen juristischen Auseinandersetzungen. Umso interessanter, dass die maßgeblichen Entwürfe Stams, Breuers und Mies van der Rohes heute im gleichen Anbieterprogramm, nämlich dem des Traditionsherstellers Thonet, zu finden sind.
Immer wieder stieß ich im Laufe der Jahre auf die so leicht und elegant wirkenden Stahlrohr-Sitzmöbel aus den Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts: In Museen und Galerien, in denen ich arbeitete, im Rahmen des Architekturstudiums und bei Freunden, Bekannten und Geschäftspartnern, die sich mit den Klassikern eingerichtet hatten. Am meisten hatte es mir dabei stets der S 43 angetan. Reduziert auf das Allernötigste, mit robusten Formauflagen aus Buchensperrholz versehen, ist er das Sitzmöbel, das sich in fast jede Umgebung unaufdringlich einzupassen vermag. Der Stuhl verfügt über eine Qualität, die man nur bei ganz wenigen Gegenständen findet: Man betrachtet ihn in seiner visuellen und konstruktiven Stimmigkeit gern, kann jedoch auch jederzeit sehr gut an ihm vorbeischauen, da er sich niemals optisch aufdrängt. Sitzfläche und Lehne sind nicht gepolstert, fühlen sich jedoch stets an wie maßgeschneidert, wozu das sanfte Nachgeben beim Niedersetzen und bei jeder Bewegung natürlich beitragen.
Vor gut 20 Jahren stand zum dritten Mal in meinem Leben der Kauf neuer Stühle an. Mein Wunsch war, dass sie diesmal länger Bestand haben sollten als ihre Vorgänger, sowohl, was die Haltbarkeit, als auch, was die ästhetische Qualität betraf. Idealerweise der Stuhl für den Rest des Lebens. Und bei einem Stuhl, der fast 80 Jahre nach dem Entwurf noch schön, zeitlos und konstruktiv richtig wirkt, so dachte ich, könne man wohl die Hoffnung haben, dass er auch nach weiteren 50 Jahren noch funktioniert und gefällt. Ich wählte die Variante mit klassisch-schwarz gebeizten Holzelementen – eine Entscheidung, die ich nie bereut habe. Zu den ursprünglich vier angeschafften S 43 haben sich einige Jahre später weitere gesellt, denn das schlichte Möbel bewährt sich überall, wo man sitzen muss: Am Ess- wie am Besprechungstisch, bei Küchen- wie bei Bastel-, pardon, Makerarbeiten.
Seit nunmehr fast sieben Jahren ist der S 43 bei mir sogar als Bürostuhl im Einsatz. Freilich widerspricht er in so ziemlich allen Punkten den Normen und berufsgenossenschaftlichen Vorgaben für Büroarbeitsstühle. Weder verfügt er über ein fünfarmiges Fußkreuz mit Rollen, noch über irgendwelche Verstellmöglichkeiten, er hat überdies keine Armlehnen und lässt sich schon gar nicht um die vertikale Achse drehen. Schaumstoffauflagen und Polster sucht man natürlich auch vergebens. Mein leidgeprüfter Rücken scheint sich – in seiner vollständigen Unkenntnis aller Vorschriften und Normen – daran überhaupt nicht zu stören: Seit der auf Mart Stams Entwürfen beruhende Thonet-Stuhl bei mir im Dauereinsatz ist, habe ich weniger unter Rückenbeschwerden zu leiden, als je zuvor. Alles, was man obendrein noch braucht, ist eine Tisch- oder Arbeitsplatte in der für die eigene Körpergröße passenden Höhe.
Doch zurück zu Mart Stam. Auf seine Stuttgarter Zeit folgen zwei Jahre in Frankfurt, wo er als einer von über 60 Architekten und Designern unter Stadtbaurat Ernst May das Neue Frankfurt plant. Daneben hält er Gastvorlesungen am Bauhaus in Dessau. 1930 folgt er May in die Sowjetunion, wo die Brigade May in zahlreichen Städten riesige Wohnsiedlungen plant. Doch mit der Festigung der stalinistischen Strukturen wird die Arbeit für die Westeuropäer immer problematischer. Vier Jahre später kehrt Stam in die Niederlande zurück. Er gründet ein Architekturbüro, nimmt jedoch bald, als lukrative Aufträge ausbleiben, eine Stelle als Direktor der Amsterdamer Kunstgewerbeschule an.
Nach dem Zweiten Weltkrieg versucht er sich ein weiteres Mal am Aufbau des real existierenden Sozialismus. 1948 zieht er nach Dresden, wo er den Auftrag erhalten hat, die Kunsthochschule und die Akademie für Werkkunst neu zu strukturieren. Doch Stam tut sich schwer mit dem Spannungsfeld zwischen neuem Sozialismus und alten Nazis in der Gründungszeit der DDR. Er hat nicht viele Freunde in Dresden und wird schon Anfang Mai 1950 zum Direktor der Hochschule für angewandte Kunst in Berlin-Weißensee befördert, wo er weniger politischen Gestaltungsfreiraum haben soll. Sein Schaffen scheint in dieser Zeit erfolgreich zu sein, findet jedoch immer weniger die Akzeptanz der Führungsspitze der DDR.
Die Auseinandersetzungen gipfeln schließlich in einem Hausverbot, das der Generalsekretär des ZK der SED gegen Stam für die Einrichtungen in Weißensee ausspricht. Dieser, kein anderer als Walter Ulbricht, hat als gelernter Möbeltischler wohl ganz andere Vorstellungen von sozialistischem Design. Diese Möbel eignen sich für Westberliner, aber nicht für unsere Werktätigen, wird Ulbricht zitiert, und so zieht Mart Stam 1953 ein weiteres Mal zurück in die Niederlande. Dort wirkt er zunächst in einem Architekturbüro mit und arbeitet weitere zehn Jahre freiberuflich. Nach einer schweren Krankheit übersiedelt Stam 1966 in die Schweiz, wo er bis zu seinem Tod im Jahr 1986 sehr zurückgezogen lebt.
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