Männig

Plastikstäbchen

»Das musst du dir anschauen! Das ist der Reißer! Da ist richtig Musik drin!«

Der Kollege ist völlig begeistert.

»Hab ich gerade aus Hongkong von der Messe mitgebracht. In den USA verkaufen sich die Dinger wie blöd!«

Es ist der Spätherbst des Jahres 1995. Seit etwa einem halben Jahr arbeite ich freiberuflich für ein Unternehmen namens EM-Entertainment, das später noch unter dem Namen EM.TV zu Berühmtheit kommen soll. Dort kümmere ich mich um das Merchandising auf Veranstaltungen und um die Lizenzierung von Marken wie dem Münchner Oktoberfest oder dem Nürburgring.

In den vergangenen Monaten haben regelmäßig, oft mehrmals pro Woche, Menschen mein Büro bevölkert, die mir erklären wollten, wie man im Rahmen dieser Projekte reich werden kann. Menschen, die fast immer eine – zumindest ihres Erachtens – ganz tolle Idee hatten, aber nur selten irgendwelche Vorstellung von Umsetzung oder gar Vermarktung. Und nun also noch der geschätzte, gerade aus Hongkong zurückgekehrte Kollege. Den Grund seiner Euphorie wirft er mir auch gleich auf den Schreibtisch.

»Was soll denn das sein?«, frage ich entgeistert und nehme den langen, weißen Plastikstab in die Hand. An einem Ende ist das Polypropylen merkwürdig umgefalzt. Ich kann mir zunächst keinen Verwendungszweck für das einfache Spritzgussteil vorstellen, schon gar keinen, der solche Begeisterungsstürme hervorrufen könnte.

»Das ist ein Flaggenmast für's Auto«, erklärt mir mein Kollege. »Hier, mit der flachen Seite, klemmt man ihn zwischen Seitenscheibe und Fensterrahmen ein. Und hier oben, an dem langen Stab, da kann man eine kleine Flagge dranmachen.«

»Aha«, antworte ich, »Und wer braucht bitte eine Flagge am Auto? Ist ja schließlich nicht jeder Ehrenkonsul von Vanuatu oder Burkina Faso und muss seine Limousine entsprechend dekorieren.«

»Hör mal«, ereifert sich der Kollege, »Ich sag dir doch, in Amerika verkaufen sich die Dinger mit kleinen Flaggen dran schon massenhaft. Das bringen wir nach Deutschland! Das wird ein Riesenmarkt!«

»In Amerika, in Amerika!«, kontere ich. »Bei allem, was mit Flaggen zu tun hat, haben die Amis doch eh einen an der Mütze. Stars and Stripes überall. Aber mal im Ernst: Kannst du dir wirklich vorstellen, dass in Deutschland irgendjemand mit schwarz-rot-goldenem Stoffgeflatter am Auto rumfährt? Kein Mensch macht hier sowas. Den Nationalstolz haben uns ja nicht zuletzt die Amerikaner nach 1945 gründlich ausgetrieben. Das läuft hier nicht, und dieses dämliche Plastikstäbchen kannst du in der Pfeife rauchen. Das würde ein Granaten-Flop, sonst gar nichts. Vergiss es!«

Nach einer kurzen aber hitzigen Diskussion gibt der Kollege schließlich nach: »Okay, aber ich lass' dir das Ding mal noch da, vielleicht änderst du doch noch deine Meinung.«

»Vergiss es!«, rufe ich ihm noch einmal nach.

Noch ein oder zwei Jahre liegt der unscheinbare, weiße Plastikstab in meiner Schreibtischschublade, bevor er schließlich einer Aufräumaktion zum Opfer fällt.

Heute, fast 17 Jahre später und gerade in diesen Tagen, überlege ich mir manchmal, ob es nicht doch besser gewesen wäre, mich damals von meinem Kollegen umstimmen zu lassen.

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