Männig

Ökostrom

BahnCard-Inhaber fahren mit 100 Prozent Ökostrom, so wird die Marketingabteilung der Deutsche Bahn nicht müde zu betonen, und selbstverständlich gilt dies auch für alle Inhaber von Wochen- und Monatskarten. Wer ohne Abo oder Vergünstigungskarte Bahn fährt, der wird im logischen Schluss mithilfe von Kohle- und Atomstrom oder anderen bösen Energien befördert. Vor diesem Hintergrund hat sich wohl fast jeder Bahnfahrer schon einmal gefragt, woher denn der Lokführer weiß, wie er jeweils den benötigten Strom aus den unterschiedlichen Quellen abhängig von den aktuellen Fahrgästen mischen muss – wenn doch das Zugpersonal die Fahrkarten erst im Laufe der Fahrt kontrolliert.

Vor derart elementaren Fragestellungen bietet sich natürlich eine Recherche an der Quelle an, also dort, wo Strom für die Bahn hergestellt wird, in diesem Fall auf dem Gemeindegebiet von Langenprozelten im nordöstlichen Teil des Spessarts. Hier betreiben die Rhein-Main-Donau AG und der E.ON-Ableger Uniper SE das Pumpspeicherkraftwerk Langenprozelten, das seit seiner Fertigstellung im Jahr 1976 exklusiv die Bahn beliefert. Freilich ist dieses Kraftwerk lediglich eines von neunzehn Kraftwerken in Deutschland, die derzeit Elektrizität ausschließlich für die Deutsche Bahn erzeugen. Daneben gibt es noch etwa 50 Umformer- und Umrichter-Stationen, die Strom aus den gewöhnlichen Stromnetzen auf das für die Bahn passende Format modifizieren und diesen ins bahneigene Netz einspeisen.

Hier im Spessart findet man das einzige deutsche Pumpspeicherkraftwerk für Bahnstrom in Deutschland vor. Dabei handelt es sich um eine besondere Form eines Wasserkraftwerks. Wie alle Wasserkraftwerke setzt es die Bewegung von Wasser, das aufgrund der Schwerkraft von oben nach unten fließt, in eine Drehbewegung um, die wiederum einen Generator antreibt, der Strom erzeugt. Pumpspeicherkraftwerke sind jedoch in der Lage, als quasi-geschlossenes System zu arbeiten. Sie verfügen über über zwei Wasserreservoirs, ein höher und ein niedriger gelegenes. Das Wasser fließt in einer Leitung, einem Rohrsystem oder in unterirdischen Druckstollen vom oberen in das untere Reservoir und treibt dabei über eine Turbine einen Stromgenerator an.

Später wird das Wasser wieder nach oben gepumpt, und wenn sich genügend Wasser im oberen Reservoir befindet, kann mit der Stromerzeugung wieder begonnen werden. Ein zeitversetzes Perpetuum Mobile also? Nein, weit gefehlt! Der Wirkungsgrad vom Pumpspeicherwerken liegt bei lediglich 75 bis 80 Prozent. Es muss also für das Hinaufpumpen des Wassers wesentlich mehr Energie aufgewendet werden, als dieses beim Hinabfließen wieder zu erzeugen vermag. Grund dafür sind in erster Linie Reibungs- und thermische Verluste. Wozu also das Ganze? Pumpspeicherkraftwerke dienen vorwiegend der Pufferung von Bedarfsspitzen: Wenn viel Strom benötigt wird, können sie sehr kurzfristig produzieren – um dann, wenn viel oder preiswerter Strom vorhanden ist, ihre Batterie in Form des oberen Reservoirs wieder per Wasserpumpe aufzufüllen.

Das obere Reservoir des Langenprozeltener Kraftwerks findet man auf der Solhöhe, mit 536 Metern über dem Meeresspiegel einer der höheren Erhebungen des Spessarts, die zwischen den Tälern von Main, Lohr und Sindersbach liegt. Die Ausmaße des offenen Wasserbeckens sind beeindruckend. Der künstliche Damm hat einen Umfang von über 1,3 Kilometern. Wo sich normalerweise eine Wasserfläche von 11,6 Hektar (116.000 Quadratmeter) erstreckt, blickt man im Moment von der Dammkrone 17 Meter in die Tiefe des Speicherbeckens. Seit zwei Jahren schon renovieren und modernisieren nämlich die Betreiber des Kraftwerks die gesamte Anlage, weshalb sich das obere Reservoir derzeit noch eindrucksvoll ohne Wasser präsentiert. Sobald das Kraftwerk wieder in Betrieb ist, wird das Becken wieder 1,675 Millionen Kubikmeter Wasser fassen, mit denen bei Bedarf etwa 950 Megawattstunden Strom erzeugt werden können.

Werden die Kugelschieber genannten, gewaltigen Ventile im Kraftwerksgebäude im Tal geöffnet, dann stürzen 31,6 Kubikmeter Wasser pro Sekunde durch eine 1,3 Kilometer lange Druckleitung 310 Höhenmeter hinunter, wo sie zwei Turbinen mit je über drei Meter Durchmesser in schnelle Drehung versetzen. Die beiden angehängten Generatoren erzeugen dann je 84,2 Megawatt, und das Wasser läuft ins untere Speicherbecken im Tal des Sindersbachs ab. Generatoren und Turbinenräder sind so aufgebaut, dass sie auch als Motoren und Pumpen dienen können. Im Pumpbetrieb entzieht das System dem Stromnetz dann wieder 77 Megawatt elektrische Leistung und fördert 25,8 Kubikmeter pro Sekunde ins Becken 300 Meter weiter oben. Doch das wird frühestens im Jahr 2018 der Fall sein, denn derzeit investieren die Betreiber erstmal 56 Millionen Euro in die Anlage. Generatoren, Turbinen und Ventile werden erneuert, die Druckleitung überholt und die riesigen, betonierten Wasserbecken mit Asphalt neu abgedichtet.

Insbesondere diese Wasserbecken hinterlassen beim Spessartbesucher nur sehr bedingt den Eindruck eines Ökoparadieses, wirken sie doch eher wie industrielle Fremdkörper in der Landschaft. Aber wie öko ist denn nun der hier erzeugte Strom, und in wieweit verbessert er die Ökobilanz der Deutschen Bahn? Zunächst einmal muss man wissen: Ökostrom ist in Deutschland kein geschützter Begriff. Jeder kann ihn verwenden, wie er möchte, jeder kann damit bezeichnen, was er möchte. Dass es es sich aber bei Strom, der per Wasserkraft erzeugt wird, um Ökostrom handelt, darüber scheinen sich alle Protagonisten dieses Wirtschaftszweigs einig zu sein. Die Pressestelle der Rhein-Main-Donau AG zeigt sich daher auch euphorisch, was das unternehmenseigene Pumpspeicherkraftwerk Langenprozelten betrifft. Sie bezeichnet den dort erzeugten Strom als »klima- und umweltfreundliche Energie«.

Doch wie ist das Wasser des Pumpspeicherwerks aus dem unteren Becken wieder nach oben gekommen? Wir erinnern uns: Mithilfe von Pumpen, die mit Strom betrieben werden. Mit welchem Strom aber, mit gutem Ökostrom oder gar doch mit bösem Kohle- oder Atomstrom? Schließlich wird Bahnstrom ja auch im gar nicht so fernen Kernkraftwerk Neckarwestheim erzeugt. Ganz so einfach, wie die Bahn es für ihre Kunden scheinen lassen will, ist das Auseinanderdividieren der im Netz vorhandenen Stromsorten wohl doch nicht. Zumindest hat man nach langen Diskussionen in Österreich im dortigen Ökostromgesetz festgelegt, dass bei Pumpspeicherwerten nur derjenige Anteil an Strom aus Pumpspeicherwerken als Ökostrom verkauft werden darf, der aus natürlichem Zufluss an Wasser generiert wird. In Langenprozelten wäre das genau der minimale Teil an Wasser, der als Regen oder Schnee ins Oberbecken gerät. Nach diesen Kriterien wäre also fast die vollständige Produktion dieses Wasserkraftwerks nicht als Ökostrom zu bezeichnen.

Noch enger sieht die Sache eine der führenden deutschen Zertifizierungsorganisationen, der TÜV Süd. Er ist unter anderem auch im Auftrag der Deutschen Bahn tätig. Die TÜV-Publikation Produkt EE02 – Zertifizierung von Stromprodukten aus erneuerbaren Energien definiert:

Erneuerbare Energien: Wasserkraft (Speicherkraftwerke unter Abzug der Pumparbeit), Windenergie, Biomasse, Biogas, Deponiegas, Solarenergie/Photovoltaik, Geothermie, biogener Anteil aus Haushalts- und Industrieabfällen.

Netto-Erzeugung: Die Netto-Erzeugung ergibt sich aus der Menge des in das Netz eingespeisten Stroms abzüglich des von außen bezogenen Eigenbedarfs inkl. 100 % der Pumparbeit von von Pumpspeicherkraftwerken.

Der TÜV geht also schlicht davon aus, dass für die Pumparbeit nur konventioneller Strom verwendet wird – oder dass sich die Herkunft des verwendeten Stroms ohnehin nicht wirklich feststellen lässt. Unter Berücksichtigung des zuvor schon erwähnten Wirkungsgrads von Pumpspeicherkraftwerken und des fehlenden Zuflusses am Oberbecken muss die ins Netz eingespeiste Strommenge des Kraftwerks Langenprozelten bauartbedingt stets niedriger sein, als die aus dem Netz bezogene Menge. Entsprechend der Zertifizierungsrichtlinie des TÜV kann dieses Kraftwerk folglich keinen Ökostrom erzeugen, ja es hat sogar eine negative Ökobilanz.

Wann nun hat die Bahn eigentlich kurzzeitig einen so hohen Strombedarf, dass das Zuschalten dieses Pumpspeicherwerks als Stromquelle erforderlich wird? Dann, wenn die Pendler unterwegs sind, also werktags zwischen sechs und neun Uhr und noch einmal zwischen 16 und 19 Uhr. Pendler, die fast durchgängig mit Wochen- oder Monatskarten unterwegs sind. Und diese fahren, laut Bahn, seit 2013 auf ihrer jeweiligen Relation in den Fernverkehrszügen der Deutschen Bahn innerhalb Deutschlands mit 100 % Ökostrom. Aus dem Kraftwerk, das eigens für diese Nutzergruppe immer wieder temporär Strom ins Netz einspeist, kann er allerdings nicht kommen. Sie ist kompliziert, die Sache mit dem Ökostrom.

Und so kann auch der ICE, der auf einem Schild vor dem Kraftwerksgebäude als Beispiel für die Leistungsfähigkeit des Pumpspeicherwerks herhalten muss, nicht mit Ökostrom fahren. Spitzenstrom-Jahreserzeugung: bis zu 200 Mio. kWh, ausreichend, um mit einem ICE 3 die Erde rd. 330 Mal zu umrunden, heißt es da. Um diese Strommenge aber auch in der Zeit, in der sie bereitgestellt wird, zu verbrauchen, müsste sich dieser ICE, so lässt sich leicht errechnen, mit durchschnittlich 1.510 Kilometern pro Stunde fortbewegen oder anders ausgedrückt: mit gut 1,2-facher Schallgeschwindigkeit. Dies dürfte erfahrungsgemäß knapp über den Werten liegen, die die Deutsche Bahn derzeit – planmäßige und unplanmäßige Halte eingerechnet – zu leisten vermag.
 


 
Die asphaltierte Straße zum Oberbecken darf mit privaten Kraftfahrzeugen nicht befahren werden. Wer es zu Fuß erkunden möchte, kann gegenüber der Abzweigung der Auffahrt parken und sich hier auf einer Informationstafel orientieren. Wer nicht lange suchen will, folgt einfach dem mit einem Fuchssymbol gekennzeichneten Wanderweg des Spessartvereins. Mit dem Fahrrad gehts einfach auf der asphaltierten Straße entlang, wenn einen die gut 300 Höhenmeter nicht abschrecken.
 


Sehenswertes am Wegrand

Im Bergwerksstollen der Katharinengrube wurde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Baryt abgebaut. Vom Katharinenbild aus ist der Weg dorthin leicht zu finden: Er ist von unzähligen weißen Barytbrocken gesäumt, die Fuhrwerke beim Abtransport des Minerals verloren haben. Der mit einem Gitter Bergwerksstollen beherbergt heute zahlreiche Fledermäuse. Vor dem Stollentor lässt sich die alte Abraumhalde noch gut erkennen.

Die Quelle mit dem schönen Namen Böser Brunnen verfügt zwar über ein zerstörtes Brunnenhaus, jedoch kaum mehr über Wasser. Der Bau des Oberbeckens des Kraftwerks in unmittelbarer Nähe mag hierzu beigetragen haben. Etwas unterhalb des Brunnenhauses findet man einen versumpfenden Tümpel, der, den Spuren nach zu urteilen, den Wildschweinen der Region viel Freude bereitet.

Der Kleine Erlenbrunnen etwas tiefer und nordöstlich führt ebenfalls nur wenig Wasser, lädt aber mit Tisch und Bänken an einem winzigen, vermoosten Brunnentrog zur Rast ein.