Moskau, im Frühsommer 1990. Es ist die Zeit von Gorbatschow, von Glasnost und Perestroika, die Zeit der Erwartung der Menschen, die immer noch Sowjetbürger sind, endlich auch bald an den Segnungen des Kapitalismus teilhaben können. Ein wenig zumindest. Gemeinsam mit einer Kollegin besuche ich einen großen Flohmarkt in einem Stadion im Norden der Stadt. Ich bin auf der Suche nach Armbanduhren und diesen typisch sowjetischen Ansteckern, mit denen man Freunden und Bekannten zuhause in Westeuropa stets große Freude bereiten kann. Das Angebot an Waren, die dem kapitalistischen Westbürger eigentümlich bis exotisch erscheinen, ist schier unüberschaubar.
An einem einfachen Marktstand fällt mein Blick schließlich auf einen riesigen Teigkorb, der mit einer großen Menge loser Glühlampen gefüllt ist. 1 рубль, lautet das handgeschriebene Preisschild am Korb, einen Rubel also soll eine der elektrischen Birnen kosten.
»Schau mal, Elena«, rufe ich, »Glühlampen! Hast du nicht gesagt, es gäbe zur Zeit überhaupt keine Glühlampen? So schlimm scheint es dann wohl doch nicht zu sein mit der sozialistischen Mangelwirtschaft.«
»Ja, aber diese Lampen sind doch kaputt«, erwidert meine Kollegin, die als gebürtige Russin und studierte Germanistin eine kompetente Mittlerin zwischen den Welten ist.
»Kaputt? Wer kauft den kaputte Glühlampen?«, will ich erstaunt wissen.
»Ja das ist doch ganz einfach: Wer eine neue Glühlampe braucht, kauft hier, auf dem Flohmarkt eine alte, durchgebrannte. Die nimmt er dann mit an seine Arbeitsstelle. Dort schraubt er sie in einem unbeobachteten Moment eine funktionierende Glühbirne heraus und ersetzt sie gegen die kaputte. So hat er eine gute, funktionierende Glühlampe, die er zuhause verwenden oder noch besser: teuer verkaufen kann. Und an seinem Arbeitsplatz merkt das ja keiner. Denn Lampen brennen ja immer mal wieder durch, oder?«
Es war dieser Tag, an dem mir so viel darüber bewusst wurde, wie die russische Seele, die russische Volks- und Betriebswirtschaft und nicht zuletzt auch über die russische Politik funktioniert. Das Erstaunen westlicher Kommentatoren über den Ablauf und die Ergebnisse russischer Wahlen kann ich aufgrund meiner Erfahrungen in diesem Land innerhalb einiger Monate vor etwa 20 Jahren bis heute nicht so recht teilen.
Denen, die jetzt gegen dieses russische System auf die Straße gehen, ist sicherlich viel Glück zu wünschen. Diese Opposition kämpft jedoch gegen Verhaltensweisen, die seit Jahrhunderten zur angestammten Tradition in jenem Landstrich gehören, gleich ob das Staatssystem ein feudales, ein kommunistisches oder ein postkommunistisches war. Ob sich diese Strukturen in den Köpfen innerhalb eines überschaubaren Zeitraums verändern werden? Zweifel mögen zumindest erlaubt sein.
Bild der Glühlampe im Text und auf dem Titel von KMJ, Lizenz CC BY-SA-3.0
cronhill
Diese Anekdote habe ich zum ersten Mal in einem Arkadi Renko Thriller von Martin Cruz-Smith gelesen. Und das kann schon sehr lange her sein. Es scheint sich um eine sehr verbreitete Geschichte zu handeln.
Jens Arne Männig
Die Sowjetunion hatte zuletzt gut 290 Millionen Einwohner. Warum sollte deren eigentümliche Methode zur Deckung des Leuchtmittelbedarfs nur mir aufgefallen sein? Danke aber für den Hinweis. Ich habe etwas mehr dazu auf dieser Webseite gefunden. Das dort erwähnte Interview stammt von 1992, kurz nach dem Ende der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken.
tadon
Auf jedenfall eine sehr schöne Geschichte. Solche Anekdoten hört man immer wieder und zeigen die manchmal etwas obskure Seite.
Herbert
“Klingt gut! Angewandtes Feng Shui, nemmwer!”
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