Sdg nachadressiert wg. unkorrekter Anschrift – Bitte Abs. verständigen!, ist auf dem großen braunen Umschlag zu lesen. Das kleine Adressetikett unter den Sondermarken Tulpe und Ballonblume trägt durchaus die richtige Anschrift, ist jedoch ganz offensichtlich von der Absenderin sehr eilig mit dem Kugelschreiber auf das kleine Papieretikett notiert worden. So eilig, dass sich die automatischen Lesegeräte im Verteilzentrum der Post überfordert fühlten. Also benötigte der dicke, braune Umschlag zehn Tage für seine Irrwege aus dem Schwäbischen bis nach Oberbayern. Die Absenderin, das ist Pia Ziefle. Man kennt sich schon lange von Twitter, ihr Blog gehört zu den Essentials in meinem Feedreader und man hat, erst vor kurzer Zeit, sogar schon einmal miteinander telefoniert. Jeder in der kleinen Welt der deutschsprachigen Social Media weiß, dass Pia Ziefle seit längerem an ihrem ersten Roman gearbeitet hat.

Immer wieder hat sie vom Fortgang ihres Projekts berichtet, von der Freude über die bevorstehende Veröffentlichung, aber auch von Ängsten, Zweifeln und Unsicherheiten. Pia Ziefle ist keine Frau, die auf Twitter, Google+ oder in ihrem eigenen Blog plump die Werbetrommel rührt. Sie ist eine der seltenen Personen, bei denen man den Eindruck gewinnt, dass sie auch auf Social-Media-Kanälen schlicht sie selbst sind und einfach über das berichten, was sie beschäftigt. Um so lieber nimmt man auch an ihren Projekten teil. Büchersendung prangt denn auch auf dem großen Umschlag, und beim Lösen der Musterklammern fällt einem das neue Werk mit seinen über 300 Seiten entgegen. Innen findet sich eine sehr persönliche Widmung und ein knallroter Papierstreifen mit der Aufschrift Für Rezensionen bitte Sperrfrist bis zum 29.02.2011 beachten!. Der Auftrag ist also klar, die Sperrfrist aufgrund der geheimnisvoll gewundenen Wege der Post ohnehin kein Problem mehr.

Gewundene Wege, die nur allzu gut zum Inhalt des Ziefleschen Erstlingsromans mit dem Titel Suna passen wollen. Das Werk berichtet – durchaus nicht ohne autobiografische Elemente – von einer jungen Mutter, die sich auf die Suche nach ihrer eigenen Herkunft begibt. Eine Suche, die sie ins ehemalige Jugoslawien, in die Türkei und quer durch Deutschland führt. Pia Ziefle schreibt in starken Emotionen, und ihre Sprache springt, je nachdem, was sie in den verschiedenen Handlungssträngen gerade beschreibt, innerhalb einer großen Bandbreite hin und her. Die zahlreichen Namen der Personen in den unterschiedlichen Sippen überfordern den Leser bisweilen etwas, insbesondere dann, wenn die Akteure nur kurz auftreten. Die Autorin beschreibt sie jedoch stets äußerst lebendig, die einen liebevoll, die anderen jedoch bisweilen auch, als wolle sie in ihrem Buch mit ihnen abrechnen.

Und immer wieder gewinnt man den Eindruck, dass die Pia Ziefle ihr sprachliches Handwerk bestens beherrscht und dass ihr das, über was sie schreibt, eine Herzensangelegenheit ist. So vermag Suna bereits von den ersten Seiten an zu fesseln, und man mag das Buch, hat man einmal damit begonnen, gar nicht mehr aus der Hand legen. Mal muss man bei der Lektüre laut lachen, ein andermal treibt sie einem, besonders gegen Ende, die Tränen in die Augen. Und immer wieder ist das Werk mit wunderbar-wundersamen, kleinen Sätzen (Mein liebstes Exemplar: Im Monat des Einsturzes wechselte Heinke die Hamstersorte.) durchwebt, deren Vielschichtigkeit sich nur beim aufmerksamen Lesen ganz erschließt. Fast jeder, der den Roman liest, wird wohl darin auch einzelne, kleine Bausteine seiner eigenen Geschichte wieder finden, und so fühlt man sich bald ebenso in die Handlung integriert wie Luisa, die Protagonistin, selbst.

Vor allem aber möchte man dieses Sittengemälde des beginnenden dritten Jahrtausends den Politikern und Funktionären um die Ohren hauen, die uns das Fünfzigerjahre-Ideal der deutschen Kleinfamilie immer noch als gültigen gesellschaftlichen Standard verkaufen wollen. Nationalstaaten sind eine machtpolitische Entwicklung der Neuzeit. Völkerwanderungen und die Migration von Individuen – über Kontinente hinweg und selbst darüber hinaus – hat immer stattgefunden. Die flexible Großfamilie war über Jahrtausende hinweg der praktikable, funktionierende Standard. Doch das völkische Idealbild, das in den Dreißiger- und Vierzigerjahren in der kunstvollen Konstruktion vorgeblich reingermanischer Stammbäume und Ariernachweise seinen Höhepunkt fand, hat bis heute ihre Spuren hinterlassen – ebenso wie das Nachkriegs- und Wirtschaftswunder-Leitbild der Kleinfamilie mit alleinverdienendem, männlichem Haushaltsvorstand und einer Frau, die sich den berühmten drei K widmet.

Die Realität eines Großteils der Familien in Mitteleuropa ist jedoch eine ganz andere, und sie ist immer eine ganz andere gewesen – wenn auch in vielen Clans bis heute gern über die Herkunft des einen oder anderen Mitglieds geschwiegen wird. Es wäre schön, wenn Pia Ziefles packender Roman auch dazu anregt, unsere vielschichtigen, von Charakteren und persönlichen Geschichten geprägten Familien als normal zu betrachten, statt vergeblich einem von außen aufoktroyierten Idealbild nachzueifern und an der Realität zu verzweifeln.

Suna. Von Pia Ziefle. Erschienen im Ullstein Verlag. Dort gibt es auch eine Leseprobe, oder man lässt sich einen Ausschnitt von der Autorin vorlesen. Zu bestellen beim Buchhändler an der Ecke (ISBN-10: 3550088922, ISBN-13: 978-3550088926), beim Verlag oder beispielsweise bei Amazon. Als gebundenes Buch 18 Euro, als E-Book für den Kindle 14,99 Euro.