Immer mehr Kameras im öffentlichen Raum, automatisierte Kennzeichenerfassung auf den Straßen, Helmpflicht und Rauchverbote, Sicherungsverwahrung, und bevor man ein Flugzeug besteigen darf, muss man sich nicht nur ausziehen, sondern auch sein gesamtes Vorleben offen legen. Die Internet-Aktivitäten der Bürger werden mit Echelon und Prism, Bundestrojaner und XKeyscore überwacht, und zu allem Überfluss droht jetzt auch noch ein staatlich verordneter Veggie Day. Klar, dass die Ordnungsmacht, um dies alles noch kontrollieren zu können, ihren Fuhrpark jetzt dringend mit zusätzlichen, roten Blinklichtern und neuen Sirenen ausstatten muss.
Während die Mehrheit der Bevölkerung die immer weiter gehenden Einschränkungen der Freiheiten und Bürgerrechte für überraschend, aber unvermeidlich hält, schreit ein kleiner Kreis von Publizisten und Aktivisten Zeter und Mordio ob dieser dramatischen gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen unserer Neuzeit. Doch handelt es sich bei den fortschreitenden Beschränkungen bürgerlicher Freiheiten wirklich um einen so neuen Trend, wie uns die kritischen Stimmen weismachen wollen? Manchmal hilft es, in alten Schriften zu schmökern, um stets wiederkehrende Zyklen, ja vielleicht sogar Gesetzmäßigkeiten zu entdecken.
Mit dem erwähnten Themenkreis hat sich bereits vor fast 120 Jahren der französische Soziologe Gustave Le Bon ganz nebenbei in seinem Hauptwerk Psychologie der Massen beschäftigt. Unter der Überschrift Gefahren des Parlamentarismus beschreibt er die stetige, fortschreitende Einschränkung der Freiheit in parlamentarischen Demokratien als unausweichlich und in allen Kulturen stets wiederkehrende Entwicklung:
Trotz aller Schwierigkeiten ihrer Arbeitsweise bilden die Parlamentsversammlungen die beste Regierungsform, die die Völker bisher gefunden haben, um sich vor allem möglichst aus dem Joch persönlicher Tyrannei zu befreien. […]
Sie bergen eigentlich nur zwei ernstliche Gefahren in sich: die übermäßige Verschwendung der Finanzen und die zunehmende Beschränkung der persönlichen Freiheit. […] Die zweite der oben erwähnten Gefahren, die unvermeidliche Beschränkung der Freiheit durch die Parlamente, ist zwar weniger sichtbar, aber doch Tatsache. Sie ist eine Folge der zahllosen, stets einschränkenden Gesetze, deren Auswirkungen die kurzsichtigen Parlamente nicht bemerken und für die zu stimmen sie sich verpflichtet fühlen.
Diese Gefahr muß wohl unvermeidlich sein, denn selbst England, wo sich gewiß die vollkommenste Art der parlamentarischen Regierung zeigt und der Abgeordnete am unabhängigsten vom Wähler ist, vermochte ihr nicht zu entgehen. Herbert Spencer hatte in einer früheren Arbeit gezeigt, dass die Zunahme der scheinbaren die Abnahme der wirklichen Freiheit zur Folge haben müsse. In einer späteren Schrift. »Der Einzelne gegen den Staat«, nimmt er diese Behauptung wieder auf und sagt über das englische Parlament folgendes:
»Seit dieser Zeit hat die Gesetzgebung den Lauf genommen, den ich voraussagte. Diktatorische Maßnahmen, die sich rasch vervielfachten, haben das ständige Bestreben, die persönliche Freiheit zu beschränken, und zwar in zwiefacher Weise: jedes Jahr wird eine immer größere Anzahl gesetzlicher Forderungen erlassen, die der früheren Handlungsfreiheit des Bürgers Beschränkung auferlegen und ihn zu Handlungen zwingen, die er früher nach Belieben begehen oder unterlassen konnte. Gleichzeitig haben immer drückendere Lasten, besonders örtliche Abgaben, von vornherein die Freiheit beschränkt, indem sie den Teil seines Einkommens, den er nach Belieben ausgeben konnte, verminderten und den Teil vergrößerten, der ihm weggenommen wurde, um je nach dem guten Willen der Beamten ausgegeben zu werden.«
Diese immer mehr zunehmende Freiheitsbeschränkung zeigt sich in allen Ländern in einer besonderen Weise, auf die Spencer nicht hingewiesen hat: Die Schaffung jener unzähligen gesetzlichen Maßnahmen allgemeinbeschränkender Art führt notwendig zur Erhöhung der Zahl, der Macht und des Einflusses der Beamten, die mit ihrer Durchführung beauftragt werden. Sie haben also alle Aussicht, die wahren Gebieter der Kulturländer zu werden. Ihre Macht ist um so größer, als nur die Beamtenkaste, als einzige, die unverantwortlich, unpersönlich und auf Lebenszeit angestellt ist, dem unaufhörlichen Machtwechsel entgeht. Nun gibt es aber keine Gewaltherrschaft, die härter ist als diese, die in dieser dreifachen Gestalt auftritt.
Die fortwährende Schaffung von Gesetzen und Beschränkungsmaßnahmen, die die unbedeutendsten Lebensäußerungen mit byzantinischen Förmlichkeiten umgeben, hat das verhängnisvolle Ergebnis, den Bereich, in dem sich der Bürger frei bewegen kann, immer mehr einzuengen. Als Opfer des Irrtums, dass durch Vermehrung der Gesetze Freiheit und Gleichheit besser gesichert würden, nehmen die Völker nur drückendere Fesseln auf sich.
Sie nehmen sie nicht ungestraft auf sich. Gewohnt, jedes Joch zu tragen, kommen sie schließlich dahin, es aufzusuchen, und büßen zuletzt alle Ursprünglichkeit und Kraft ein. Sie sind nur noch wesenlose Schatten, Automaten, willenlos, ohne Widerstand und Kraft.
Wenn der Mensch in sich selbst die Spannkraft nicht mehr findet, muß er sie anderswo suchen. Mit der zunehmenden Gleichgültigkeit und Ohnmacht der Bürger muß die Bedeutung der Regierungen nur noch mehr wachsen. Sie müssen notgedrungen den Geist der Initiative, der Unternehmung und Führung besitzen, den der Bürger verloren hat. Sie haben alles zu unternehmen, zu leiten, zu schützen. So wird der Staat zu einem allmächtigen Gott. Die Erfahrung lehrt aber, dass die Macht solcher Gottheiten weder von Dauer noch sehr stark war.
Die fortschreitende Einschränkung aller Freiheiten bei gewissen Völkern, trotz einer Ungebundenheit, die ihnen Freiheit vortäuscht, scheint eine Folge ihres Alters und ebensosehr der Regierung zu sein. Sie ist ein Vorzeichen für die Entartung, der bisher noch keine Kultur entgehen konnte. Wenn man aus den Lehren der Vergangenheit Schlüsse zieht und nach den Anzeichen urteilt, die überall in Erscheinung treten, so sind mehrere unserer modernen Kulturen auf dieser Stufe des höchsten Greisenalters, das der Entartung vorangeht, angelangt. Bestimmte Entwicklungsformen scheinen für alle Völker unabwendbar zu sein, da sich dieser Verlauf in der Geschichte so oft wiederholt.
Will man Le Bons Theorie Glauben schenken, so hilft nur ein Neuanfang – nach dem freilich eine neue Demokratie wiederum nur den gleichen, vorgezeichneten Weg zu nehmen vermag. Ein ewiger Kreislauf, bis es der Menschheit eines Tages vielleicht doch gelingt, eine noch bessere Staatsform als den Parlamentarismus zu entwickeln.
Tipps zum Weiterlesen
- Gustave Le Bon: Psychologie der Massen (Psychologie des foules), Paris 1895
- Herbert Spencer: The Man versus the State, London 1885
- Stanisław Lem: Der futurologische Kongreß: Aus Ijon Tichys Erinnerungen (Kongres futurologiczny), Krakau 1971
Headerbild basierend auf Paweł Zdziarski: Kamery przemysłowe nad mariną w Gdyni, Lizenz CC BY-SA
Alex
Interessant. Aufgrund des Alters der genannten Literatur vermute ich, dass nicht näher auf den Geld-Faktor eingegangen wird, oder?
Ich kann dem was geschrieben wurde definitiv zustimmen, aber der treibende Faktor seit zumindest einem Jahrhundert ist die Gier nach finanziellem Reichtum. Hier ist zu differenzieren, dass Reichtum in egal welchem Ausmaß nicht per se negativ ist, aber viele Menschen zu unmoralischen Handlungen verleitet.
Das übergreifende Thema der Gesetzgebung der letzten Jahre ist der Schutz der finanziellen Interessen einiger weniger (versteckt hinter multinationalen Konzernen), durch die Einschränkung der Rechte vieler. SOPA/PIPA in den USA, vergleichbare Bestrebungen in Europa, das Scannen von Netzwerkverkehr auf (wirtschaftlich) unerwünschte Inhalte durch Internet-Provider und der Kampf gegen Netzneutralität sowie die Versuche jegliche Nahrungsquelle unter die Kontrolle von Konzernen zu bringen (Monsanto, Nestlé) sind nur einige der aktuellen Beispiele.
Symptomatisch drückt sich dies in den Regierungen aus. Am stärksten in den USA, wo der Kongress fast ausschließlich mit Millionären besetzt ist, die keinerlei Ziel haben als die Sicherung ihrer Macht, was der Sicherung ihres Einkommens und des ihrer Freunde gleichkommt.
Bei uns in Deutschland durch Parlamentarier, die offen wie im Verborgenen Geld von Lobbyisten und Firmen annehmen, damit Gesetze und Bestimmungen zu deren Vorteil verabschiedet werden.
Dieserlei Diskussionen führen natürlich in einen ganz neuen Kaninchenbau an Problemem, aber hier ist eine Idee:
Wieso verschärfen wir nicht die Kontrolle der Parlamentarier auf Landes- und Bundesebene? Ihre Familien werden versorgt mit einem bequemen Gehalt (wirklich bequem), aber sie dürfen keinerlei weitere Einkünfte haben, nicht einen Cent. Lobbyismus wird nicht verboten, aber muss öffentlich geschehen und aufgezeichnet werden und nicht mit Geld geregelt werden. Strafen für Fehlverhalten bei Politikern werden massiv verschärft und die Gehälter steigen im gleichen Maß wie die Reallöhne und die Annahme eines Postens in einem auch nur annähernd verbundenen Wirtschaftszweig nach Amtszeitende wird unter Strafe gestellt, für Politiker wie für Firmen.
Dies nur als Einstieg in einen potentiellen Maßnahmenkatalog, der dabei helfen könnte den Faktor Geld aus der Gleichung zu entfernen. Die Personen die dienen sollen dies auf dem Wunsch heraus tun zu dienen und nicht um sich kurz nach ihrer Amtszeit in ein von der Wirtschaft gemachtes Nest zu setzen, das der Politiker mit gestaltet hat (siehe von Klaeden), um so schnell wie möglich nichts mehr vom Proletariat sehen zu müssen.
Huch, das ist länger geworden als ich dachte.
Jens Arne Männig
Ich befürchte, beim von dir vorgeschlagenen Lösungsansatz müsste sich die Katze in den eigenen Schwanz beißen. Da die Gesetzesinitiativen beim Parlament liegen, müssten die Parlamentarier und Politiker ihren eigenen, komfortablen Status selbst einschränken. Da dies nicht in ihrem Interesse ist, erscheint es mir als recht unwahrscheinlich, dass dieser Fall in absehbarer Zeit eintreten wird.
Irene
Das Rauchverbot passt nicht in die Aufzählung, jedenfalls nicht in Bayern, weil wir es dem Volksbegehren verdanken.
Ich würde außerdem das Streben nach Barrierefreiheit – und dazu gehört der Nichtraucherschutz in geschlossenen (!) Räumen aus meiner Sicht – nicht zu den Beschränkungen der bürgerlichen Freiheiten zählen. Bauvorschriften für rollstuhlgerechte Gebäude zählt man im Allgemeinen auch nicht dazu, obwohl sie die Freiheit der Bauherren spürbar einschränken. Ich kann mich wieder freier bewegen, weil es den Nichtraucherschutz gibt, warum zählt das weniger als die Freiheit zu rauchen?
Damit kann ich auch gleich zu diesem historischen Text überleiten: Damals war das allgemeine Wahlrecht noch gar nicht durchgesetzt (kein Frauenwahlrecht, in Preussen das Dreiklassenwahlrecht, hohes Mindestalter im Kaiserreich), und so habe ich dann wenig Vertrauen, dass man bei den bürgerlichen Freiheiten weit über vermögende Männer hinaus dachte.
Jens Arne Männig
Freiheit ist vermutlich ein zu philosophischer Begriff, um ihn für alle Menschen gültig definieren zu können. Oft wird die gleiche Handlung vom einen als Manifestation der eigenen Freiheit und vom anderen als Einschränkung seiner Freiheit empfunden. Der Unterschied liegt lediglich darin, dass der eine die Handlung aktiv beeinflusst und steuert, der andere jedoch nicht. Das Einatmen von Rauchgasen ist insofern ein treffliches Beispiel: Wer Rauchgase gemäß seiner freien Willensentscheidung generiert, empfindet ihr Einatmen – insbesondere vor dem Hintergrund werblicher und sozialer Prägungen – als Ausdruck seiner Freiheit, wer sie unfreiwillig einatmen muss eben nicht. Eine gesamtgesellschaftliche Definition des Freiheitsbegriffs ist in solchen Fällen, wie gerade die jüngere Geschichte zeigt, schwierig, vermutlich dauerhaft kaum möglich.
Das allgemeine aktive Wahlrecht bestand in Frankreich zu dem Zeitpunkt, als Le Bon seine Psychologie der Massen verfasste, erst seit relativ kurzer Zeit und war daher noch in der aktiven Diskussion. Das Stimmrecht schloss freilich damals – wie in allen anderen Staaten auf nationaler Ebene ebenso – das für Frauen noch nicht ein. Le Bon schreibt dazu:
Die Existenz eines allgemeinen aktiven Wahlrechts beurteilt Le Bon aus seiner strikt ergebnisorientierten Perspektive also schlicht als unrelevant.