Männig

Ameisen überholen nicht

Ein Stau auf der Autobahn. Das ist heute nicht mehr die Ausnahme, sondern eher die Regel. Kein Wunder: Laut den Zahlen des Kraftfahrtbundesamts drängen sich 56 Millionen zulassungspflichtige Kraftfahrzeuge auf den 626.000 Kilometern des deutschen Straßennetzes. Für jedes motorgetriebene Fahrzeug bleiben rein rechnerisch also gerade einmal gute elf Meter. Freilich haben die meisten Straßen mehrere Fahrstreifen, so dass sich die Fahrzeuge in der Realität des Verkehrs eigentlich besser verteilen könnten. Auf der anderen Seite sind aber die Lebensgewohnheiten der Deutschen höchst konform. Am Samstag nach Ferienbeginn fährt man in den Urlaub, am Wochenende ins Grüne und zu Weihnachten oder Ostern werden Familie und Verwandte besucht – selbstverständlich mit dem Auto.

So sind ganz regelmäßig, zu den stets gleichen und vorhersagbaren Terminen, die Straßen verstopft. Und dazu braucht es noch nicht einmal den sprichwörtlichen Unfall auf der Autobahn, auf den fast zwangsläufig ein Stau folgt. Eine Straße hat nämlich eine ganz natürliche Kapazitätsgrenze, die von verschiedenen Faktoren abhängig ist. Je mehr Fahrstreifen eine Straße hat, desto mehr Verkehr kann sie auch aufnehmen. Deshalb sind heute schon immer weniger Autobahnen des klassischen, vierspurigen Modells mit Standstreifen anzutreffen. Sechsspurige Autobahnen sind inzwischen der Standard, acht- und zehnspurige in der Nähe von Ballungszentren jedoch durchaus auch anzutreffen.

Einfacher lässt sich die Kapazität einer Straße ermitteln, wenn man exemplarisch nur einen einzelnen Fahrstreifen betrachtet. Hier spielen drei Werte eine Rolle: Die Geschwindigkeit der Fahrzeuge auf einer Strecke, die Verkehrsdichte, die angibt, wie viele Fahrzeuge sich auf einem festgelegten Kilometer der Fahrbahn befinden und die Verkehrsstärke. Sie gibt die Zahl von Fahrzeugen an, die innerhalb einer Stunde eine bestimmte Stelle der Fahrbahn passieren.

Selbstverständlich ist es das Ziel fast jedes Verkehrsteilnehmers, eine bestimmte Strecke in einer möglichst kurzen Zeit zu bewältigen. Hierzu muss er mit möglichst hoher Geschwindigkeit unterwegs sein, also schnell fahren. Das Interesse des Gemeinwesens, das die Verkehrsinfrastruktur bereit hält, ist es, die teure Infrastruktur möglichst optimal zu nutzen. Wird eine bestehende Straße von so vielen Fahrzeugen wie möglich pro Zeiteinheit genutzt, dann wird kein teurer Bau neuer Straßen erforderlich. Schließlich kostet beispielsweise ein Kilometer neu gebauter Autobahn etwa 26,8 Millionen Euro.

Aber bewältigt eine Fahrbahn bei hohen Geschwindigkeiten der einzelnen Verkehrsteilnehmer nicht auch automatisch die größtmögliche Zahl von Fahrzeugen? Wenn die Autos schnell fahren, sausen doch auch viele pro Stunde an der Kontrollstelle vorbei, die die Verkehrsstärke misst? Theoretisch mag dies zunächst richtig erscheinen jedoch sprechen schon die Verkehrsregeln gegen diese Vermutung: Fordert die Faustregel des Halbtachoabstands bei 80 km/h nur 40 Meter, so sind bei 160 km/h schon 80 m Abstand zum vorausfahrenden Fahrzeug zu halten. Lastkraftwagen müssen laut Straßenverkehrsordnung schon ab Geschwindigkeiten von 50 km/h einen Abstand von mindestens 50 Metern einhalten.

Bei Messungen in der Praxis zeigt sich, dass mit zunehmender Verkehrsdichte auf einem Fahrstreifen die gefahrenen Geschwindigkeiten deutlich sinken. Genaue aber allgemein gültige Werte sind dabei nur schwer zu definieren, da sie beispielsweise von der Straßenführung und vom Straßenzustand, vom Wetter und von der Typologie der Fahrer abhängig sind. Auswertungen des Instituts für Verkehrswesen an der Universität Karlsruhe bestätigten jedoch immer wieder einen engen Rahmen: Die maximale Kapazität einer Fahrspur beträgt etwa 1.600 bis 2.000 Fahrzeuge pro Stunde. Dabei passiert etwa alle 2 Sekunden ein Auto die Zählstelle. Diese maximale Verkehrsstärke kann bei  Fahrgeschwindigkeiten zwischen 60 und 90 km/h erreicht werden.

Die Forschungsergebnisse zeigen also, dass die optimale Leistungsfähigkeit unserer viel befahrenen Straßen bei relativ niedrigen Geschwindigkeiten gegeben ist. 60 bis 90 km/h ist weit von dem entfernt sind, was sich der einzelne Autofahrer mit seinem für hohe Geschwindigkeiten optimierten Automobil mit hohem Gewicht und hoher Leistung wünscht. Die Interessen des Individuums gehen also keineswegs konform mit den Interessen des Gemeinwesens, das die Straßen baut und unterhält. Es ist fraglich, inwieweit in Zeiten leerer öffentlicher Kassen Bund und Länder weiterhin in der Lage sein werden, Verkehrsinfrastrukturen bereit zu stellen, die dem Einzelnen den Luxus persönlicher Höchstgeschwindigkeit zumindest noch theoretisch ermöglichen.

Interessant ist es in diesem Zusammenhang natürlich, andere Gemeinwesen zu betrachten, die mit geringem Aufwand und einfachster Infrastruktur erstaunliche Leistungen vollbringen. Wissenschaftler der Universität Köln haben hierzu Ameisenvölker beobachtet, die komplexe Straßennetzwerke anlegen und nutzen. Die erstaunliche Entdeckung: Ameisen überholen auf ihren Straßen keine anderen Ameisen. Trifft eine schnellere Ameise auf eine langsamere, passt sich deren Geschwindigkeit an und folgt ihr. So entstehen Kolonnen, in denen sich die Ameisen mit relativ konstanter Geschwindigkeit fortbewegen. Das Resultat: Auf Ameisenstraßen gibt es keine Staus.

Ameisen legen, ganz im Gegensatz zu Autofahrern, im Straßenverkehr kein egoistisches Verhalten an den Tag. Raser gibt es nicht auf Ameisenstraßen. Und durch die konstante Form der Fortbewegung nimmt aber die mittlere Geschwindigkeit der Tiere mit zunehmender Verkehrsdichte praktisch nicht ab. Die Ameisen verzichten also auf das eigene schnelle Vorankommen, zum Vorteil der übergeordneten Interessen ihres Gemeinwesens – und kommen dabei letztlich doch im Schnitt stets auch selbst am schnellsten voran.

Ein Modell, von dem unser mitteleuropäischer Straßenverkehr an der Grenze seiner Leistungsfähigkeit auch lernen könnte?

Bild von Thomas Quaritsch, Lizenz GFDL