Männig

Tags

Ordnung ist ein Grundbedürfnis der Menschen. Ordnung hat eine derart große kulturelle Bedeutung, dass sogar in der Mythologie großer Teile der Menschheit die gesamte Weltgeschichte mit einem großen Aufräumen beginnt. Und seitdem der Mensch über ein Bewusstsein verfügt, wird sortiert, getrennt, in Säcke, Töpfe oder Schubladen geordnet, in Listen und Verzeichnisse eingetragen, gelocht und in Ordnern abgeheftet. Und all das mit dem Ziel, sich selbst besser orientieren zu können, das, was man irgendwann wieder sucht, auch mit einem möglichst geringen Zeitaufwand wieder aufzufinden.

Die Methoden mögen sich im Laufe der Jahrtausende geändert haben, das Prinzip blieb jedoch stets das Gleiche. Einst wurden einzelne Dokumente in Folianten oder Ordnern gebunden, die in Regalen in den Räumen einer Bibliothek oder eines Archivs aufbewahrt wurden. Heute sind es Dateien, die sich meist in mehreren Ebenen von verschachtelten Verzeichnissen auf Festplatten befinden. Was als zueinander passend betrachtet wird, wird an einem gemeinsamen Ort gelagert oder gespeichert. Auf dem Computer genau wie im Lagerkeller oder wie auf dem Dachboden.

Seit der Mensch Dinge oder Informationen besitzt, sortiert und ordnet die Menschheit also nach den gleichen, hierarchischen Mustern. Ausnahmen bestehen meist nur da, wo Dinge aufgrund ihrer Größe und Struktur nicht sinnvoll zu ordnen sind. So zum Beispiel in den Depots von Museen, wo oft Gegenstände unterschiedlichster Art aufbewahrt werden, die in den Ausstellungsräumen keinen Platz finden. Die dort gelagerten Objekte werden mit Inventarkarten, einer Art Produktanhänger versehen, auf denen die passende Bezeichnung, Zuordnung und gegebenenfalls Inventarnummer vermerkt sind. Ein Verzeichnis aller im Depot gelagerten Objekte gibt wiederum Aufschluss darüber, wo sich diese gerade befinden.

Das Auffinden eines Gegenstandes im Museumsdepot dauert systembedingt oft etwas länger: Man schlägt im Inventarverzeichnis nach und sucht dann denn dort angegebenen Lagerort auf. Ein Abgleich mit der Inventarkarte bestätigt schließlich, dass es sich auch wirklich um das gesuchte Objekt handelt. Ein aufwändiges und kompliziertes System, zumindest in der klassischen Welt der Lager und Archive. Ganz anders jedoch im jüngeren Bereich der auf verschiedensten elektronischen Datenspeichern gelagerten Informationen. Denn auch Dateien jeder Art können mit Inventarkarten versehen werden, die in diesem Bereich Tags oder Label genannt werden.

Die Rechenleistung von Computersystemen hat in den vergangenen Jahrzehnten mit stets steigender Geschwindigkeit zugenommen. Diese hohe Rechenleistung ermöglicht heute in erster Linie, dass die verwendete Software mit schicken User Interfaces daherkommt und dass die Nutzer neben der Verwendung wenig rechenintensiver Programme wie Textverarbeitungssystemen und Tabellenkalkulationen auf ihren Computern auch YouTube genießen, Bilder bearbeiten und Videos schneiden können. Warum also die ohnehin vorhandene, hohe Rechenleistung nicht auch für das Suchen und Finden verwenden, statt sich traditioneller, für den Menschen denk- und zeitintensiver, hierarchischer Ordnungssysteme zu bedienen?

Das Tagging wurde als neue Kulturtechnik der Systematisierung erst ab dem Jahr 2003 größeren Kreisen aktiver Computer- und Internetnutzer bekannt. Damals startete der amerikanische Social-Bookmarking-Dienst Delicious, der es seinen Nutzern erlaubte, die dort gespeicherten Internet-Links mit Schlagwörtern zu versehen, eben den Tags. Die auf der Plattform verwalteten Links oder Bookmarks mussten so nicht in thematisch bezeichnete Verzeichnisse geordnet werden, sondern konnten nur durch die Eingabe der ihnen vorher zugeordenten Tags noch schneller wieder aufgefunden werden. Die Suche und Auflistung aller Links mit einem bestimmten Tag erledigte das System flink und unauffällig im Hintergrund.

Gleichzeitig bot Delicious noch einen weiteren Vorteil: Wie die Bezeichnung Social Bookmarking schon erahnen lässt, konnte jeder Nutzer, der auf ein Bookmark oder eine Information Zugriff hatte, diese mit Tags versehen, jeder diese Schalgworte nutzen – eine prototypische Form des Crowdsourcing. Die Sache hatte Erfolg, und so sprangen schnell auch weitere Social-Media-Plattformen wie Digg, StumbleUpon, Flickr und schließlich auch der Branchenriese Google mit Gmail und Toutube auf den Trend auf. Für die Nutzer von WordPress-Bloggingsystemen sind Tags heute nicht mehr wegzudenken, auf Twitter werden Hashtags ganz selbstverständlich verwendet und jeder Internetnutzer ist zumindest schon einmal über eine Tagcloud gestolpert.

Umso mehr erstaunt es, dass das Konzept des Tagging bis heute nur auf den wenigsten Personal Computern und in einer eher geringen Zahl von Unternehmensnetzwerken Einzug gehalten hat. Hier werden noch immer komplexe Verzeichnishierarchien aus virtuellen Ordnern geschaffen, in deren Tiefen einzelne Dateien mehr oder weniger zusammenpassend abgelegt werden. Und mehr oder weniger lange dauert es dann auch für die Nutzer, sich jedes Mal wieder zur jeweils gesuchten Information über oft zahlreiche Hierarchieebenen durchzuklicken. Und da eine einzelne Datei nicht an verschiedenen Stellen abgelegt werden kann, behilft man sich mit Alias-Dateien oder – noch problematischer – Duplikaten.

Dabei wäre alles so einfach: Tagging-Applikationen sind längst für alle gängigen Betriebssysteme verfügbar. Ob TaggTool, Tag2Find und Tabbles für Windows, Tags, Punakea und Tagger für Mac OS oder EasyTAG für Linux (siehe André Spiegels Kommentar): Mit einer Tastenkombination öffnet sich ein Tagging-Fenster für die gerade ausgewählte Datei oder auch zahlreiche ausgewählte Dateien. In diesem Fenster können die individuellen Tags eingegeben werden, die der Datei oder den Dateien zugeordnet werden. Je nach Programm wird der Anwender mit einer automatischen Textergänzung für die Tag-Bezeichnungen oder einer Vorschlagsliste der zuletzt oder häufig verwendeten Tags unterstützt. Ebenso einfach kann mit einer weiteren Tastenkombination nach den vergebenen Tags gesucht werden. Die Systeme arbeiten dabei schnell und zuverlässig. Wo die Dateien abgelegt werden oder ob sie verschoben wurden, spielt dabei keine Rolle.

Es bleibt dem Nutzer überlassen, ob er sich zusätzlich einer hierarchischen Dateistruktur bedienen will. Für das Auffinden einmal getaggter Dateien relevant ist diese jedoch nicht. Gute Tagging-Tools bieten die Möglichkeit, Dateien in bestimmten Ordnern automatisch zuvor festgelegte Tags zuzuordnen. Dies erleichtert die Umstellung vom hierarchischen zum Tagging-System. Sind erst einmal alle relevanten Dateien getaggt, dann kann endlich guten Gewissens auf der Festplatte das Chaos herrschen: Dateien, auf die man zugreifen will, werden anhand der zugeordneten Tags gefunden – ganz gleich, wo sie liegen. Dateiverknüpfungen oder Alias-Dateien werden bei dieser Organisationsstruktur schlicht nicht mehr benötigt.

Etwas Disziplin des Anwenders ist einzig bei der Vergabe der Tags selbst gefragt. Entweder, man vergibt stets konsequent bei jeder neuen oder empfangenen Datei sofort die entsprechenden Tags, oder man legt sich einen Ordner an einer zentralen Stelle, beispielsweise auf dem Desktop, an, der die noch zu taggenden Dateien aufnimmt. Bei entsprechender Funktionalität der Tagging-Applikation kann jeder Datei, die in diesen Ordner verschoben wird, ein eindeutiger Tag wie untagged hinzugefügt werden. So sind Dateien im Zweifelsfall auch wieder schnell aufzufinden, sollten sie doch einmal versehentlich ungetaggt verschoben worden sein. Zu regelmäßigen Terminen, beispielsweise am Abend jedes Arbeitstags, sollten die neuen Dateien getaggt werden, um keinen Stau unauffindbarer Dateien aufkommen zu lassen.

Was die Vergabe von Tags betrifft, sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt. Im der Systematik des Taggings gibt es eine unendliche Anzahl von Möglichkeiten der Klassifizierung. Hier zeigt sich der grundlegende Unterschied zu hierarchischen Organisationssystemen: Ein Objekt kann sich nicht in zwei Schubladen gleichzeitig befinden, kann jedoch unendlich viele Tags haben. Eine falsche Klassifizierung ist per se nicht möglich, und Tags, die einer Datei zugeordnet wurden, lassen sich auch jederzeit wieder löschen oder verändern – auch per Batchverarbeitung, also für alle Dateien mit einem bestimmten Tag gleichzeitig.

In zwei Jahren des intensiven Experimentierens mit dem Tagging auf Mac-Systemen habe ich das Programm Tags als die für meine Bedürfnisse bestmögliche Lösung entdeckt. Mit 29 US-Dollar für eine Einzellizenz oder 49 Dollar für eine Familienlizenz für bis zu vier Macs in einem Haushalt liegt das Tool am oberen Ende der Preise für Tagging-Applikationen für Mac OS. Aufgrund seiner Leistungsfähigkeit und einer äußerst einfachen Handhabung verfügt es jedoch über ein ausgezeichnetes Preis-Leistungs-Verhältnis. Die vergebenen Tags entsprechen dem OpenMeta-Industriestandard, sind also auch mit anderer Tagging-Software für Mac OS lesbar und veränderbar. Neben dem Tagging von Dateien auf Finder-Ebene unterstützt Tags auch eine große Zahl von Programmen. Dadurch kann auch direkt aus diesen Programmen heraus getaggt werden. In der täglichen Praxis lassen sich beispielsweise E-Mails in Apple Mail genauso problemlos und schnell taggen wie Webseiten in Google Chrome.

Fazit: Tagging ist eine relativ junge Ordnungstechnik bei der Arbeit mit Computern, die inzwischen fast jeder von Social-Media-Plattformen kennt, die aber bereits auf dem Sprung in die individuelle Computerumgebung ist. Nach kurzer Umstellungs- und Eingewöhnungszeit hat sie klare Vorteile gegenüber den althergebrachten, rein hierarchischen Dateistrukturen. Sind die Vorhandenen Dateien erst einmal getaggt, dann sucht der Computer sie schnell und unauffällig im Hintergrund – nicht mehr der Anwender mit zeitraubenden und lästigen Klick-Arien durch die Ordnerstrukturen.

Bildmotiv von inZane, Creative Commons Attribution 3.0