Männig

Journalistischer Ethos

Wir schreiben das Jahr 2013. Print-Publikationen verzeichnen dramatisch sinkende Abonnenten- und Käuferzahlen, Internetauftritte großer Verlagshäuser werden drastisch verkleinert oder ganz eingestellt. Immer mehr Journalisten, die aus Kostengründen von den Verlagshäusern freigestellt wurden, schreiben im Internet unter der eigentümlich-tautologisch klingenden Selbstbezeichnung Medienjournalisten über die Zukunft des Journalismus. Die Verlage selbst, die lange Jahrzehnte aus den Geldern der jetzt immer sparsamer werdenden Anzeigenkunden imposante Gewinne erwirtschaften konnten, besinnen sich nun plötzlich wieder auf die Leser als ihre Cashcows. Doch produzieren sie auch Produkte, die ihre Leser wirklich wollen?

Vor fast 96 Jahren, im September 1917 erscheint in München das erste Heft der Zeitschrift Der Ziegelbrenner, die sich einem breiten Kreis von Themen verschrieben hat. Aufsätze über Politik, Handelspolitik, Volkswirtschaft, Staatsphilosophie, Soziologie, listet das Blatt unter dem Titel auf, ferner: schöngeistige Beiträge, Buchbesprechungen, Theaterberichte und Randbemerkungen zu Streit- und Tagesfragen. Der Herausgeber und Chefredakteur, damals Schriftleiter genannt, ist Ret Marut, eine schillernde Figur, die bis dahin als Gewerkschafter und Theatermann auffiel. Unter dem Impressum der Neuerscheinung ist aufgeführt, welchen ethischen Werten sich die Redaktion des Ziegelbrenner verschrieben hat:

Zur Beachtung: Bücher, die dem Herausgeber, der Schriftleitung oder den Mitarbeitern des „Ziegelbrenner“ wichtig genug erscheinen, um besprochen und empfohlen zu werden, kauft der Verlag der Zeitschrift an. Deshalb wird die Zusendung von Büchern, sogenannten Rezensions-Exemplaren, höflichst verbeten. Waschzettel kommen dahin, wohin sie gehören; aufgenommen werden sie jedenfalls nicht.

Ebenso höflichst und ebenso bestimmt verbittet sich die Schriftleitung das Zusenden von Freikarten für Theater-Vorstellungen, Konzerte, Vorträge, Kino-Eröffnungen, Fest-Essen, Empfangs-Feierlichkeiten und Denkmals-Enthüllungen. Was hiervon wichtig ist, weiß die Schriftleitung selbst. Sie bedarf darum keiner Mithülfe, die sie, wie die Umstände nun einmal liegen, als Beleidigung auffassen würde. Die Vertreter dieser Zeitschrift legen gar keinen Wert darauf, in der ersten Parkett-Reihe gesehen zu werden und fühlen sich, wenn die Sache wirklich wichtig ist, notwendigenfalls auf einem Galerie-Stehplatz genau ebenso wohl.

Die vielleicht damit verknüpften Unbequemlichkeiten werden reichlich wettgemacht dadurch, für Bücher und Freikarten nicht Danke schön sagen zu müssen und statt dessen das Urteil unabhängiger zu erhalten.

In diesem Sinne wünschen Schriftleitung und Verlag alles aufgefasst zu wissen, was ähnlichen Zwecken und Absichten dient. Ausdrücklich sei das auch denen gesagt, die in dieser Zeitschrift zu inserieren gedenken. In dieser Zeitschrift erscheinende Inserate sollen dem Leser dienen, nicht dem, der das Inserat bezahlt. Aus diesem Grunde halten sich Schriftleitung und Verlag das Recht vor, jedes eingehende Inserat ohne Angabe von Gründen abzulehnen. Eine Zensur auszuüben, masst sich die Schriftleitung damit durchaus nicht an, weil dem, der inserieren will, ja unzählige andere Gelegenheiten, seine vollen Wünsche erfüllt zu sehen, zur Verfügung stehen.

Es scheint, dass mehr wohl nicht gesagt zu werden braucht, um Jedem zu zeigen, was gemeint ist und wie es gemeint ist.

Und weiter geht es mit einem ebenso aufschlussreichen Hinweis am Ende des Hefts:

Das nächste Heft des „Ziegelbrenner“ erscheint gegen Mitte Oktober. Vielleicht. Vielleicht auch später. Kann sein, schon früher. Je nachdem es notwendig sein sollte, neue Ziegeln zu brennen. Ein bestimmter Erscheinungs-Tag wird weder diesmal noch überhaupt jemals vorher festgesetzt. Eingehalten würde er doch nicht. Das Unheil, das durch die Zeitung angerichtet wird, rührt nicht zum geringsten Teil daher, dass alle Zeitungen und 99,9 % der Zeitschriften sich verpflichtet haben, auf die vorher festgesetzte Stunde zu erscheinen, ohne Rücksicht darauf, ob der verwendbare Stoff ihnen schon zur Verfügung steht oder nicht. Aber gefüllt muss eine Zeitung werden, weil sie pünktlich erscheinen muss. Und wenn das Gute und das Wahre und das, was der Menschheit dienen soll, nicht ausreicht, so nimmt man das Gegenteil. Weil man muss. Aber wir müssen nicht und betrachten das als Vorteil, nicht als Nachteil.

Der Ziegelbrenner-Verlag

Freilich schienen derartige Prinzipien heute, in einer Zeit, in der die Grenzen zwischen PR und Journalismus fließend sind und die Akteure rasch von einer Seite auf die andere wechseln, fast nicht mehr vorstellbar. Aber wäre es nicht doch denkbar, dass Leser für unabhängige Publikationen mit ernstzunehmenden redaktionellen Prinzipien auch heute noch lieber ihr Geld ausgeben würden? Der Ziegelbrenner selbst kann leider nicht langfristig beweisen, dass sein ethisches Konzept längerfristig auch wirtschaftlich aufgeht. Nachdem Ret Marut sich an maßgeblicher Stelle in der Münchner Räterepublik engagierte, wird das Blatt bereits im Jahr 1919 verboten, er selbst verhaftet. Einige weitere Hefte erscheinen bis 1921 weitgehend illegal im Kölner Exil des Herausgebers und Schriftleiters.

Hinweis: Als Inhaber eines Presseausweises habe ich selbst einige Jahre lang gern von großzügigen Journalistenrabatten, Einladungen und kostenlosen Eintrittskarten – auch für meinen privaten Bedarf – profitiert.