Männig

Blitzeis

Es gibt eine Jahreszeit in Mitteleuropa, die nennt sich Winter. Und wenn man den Erkenntnissen der Paläoklimatologie glauben darf, gibt es sie schon eine ganze Weile, jedes Jahr aufs Neue. Aber auch im Winter sind die Temperaturen nicht konstant, sondern unterliegen Schwankungen. Und so kommt es öfter einmal vor, dass im Winter Regen fällt, der Boden aber von einer kälteren Periode kurz zuvor noch unter 0°C kalt ist. Dies hat zur Folge, dass das Regenwasser auf dem Boden gefriert, so dass sich eine Eisschicht bildet. Ein ganz normaler und häufiger Vorgang, der in früheren Zeiten höchstens am Stammtisch Erwähnung fand, wenn es galt, die blauen Flecken zu entschuldigen, die beim Heimweg vom Wirtshaus in der Nacht zuvor höchst würdevoll erworben worden waren.

Mit der kulturellen Errungenschaft des Verkehrsfunks zu Anfang der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts aber wurde das äußerst banale Wetterelement plötzlich zu einem Ereignis, vor dem es zu warnen galt. Freie Fahrt für freie Bürger!, lautete der Wahlspruch der Zeit, und so wurde eine ganz normale winterliche Wetterlage plötzlich als Bedrohung der Freiheit empfunden. Schließlich schränkte sie das junge, aber dennoch gleichsam religiös gepriesene Wirtschaftswunder-Ideal des motorisierten Individualverkehrs ein. Überfrierende Nässe nannten die Medien in diesen Tagen die neue Gefahr, die erst dadurch entstanden war, dass die Menschen im europäischen Kulturraum plötzlich einen erheblichen Teil ihres Lebens auf der Straße zubrachten. Mobilität als Quasi-Menschenrecht, ja Menschenpflicht schloss es ja aus, bei schlechtem Wetter einfach mal zuhause zu bleiben, wie es sich über die Jahrtausende zuvor hinweg gut bewährt hatte.

Fast gleichzeitig mit dem Verkehr explodierte die Welt der Medien. Es blieb nicht bei den bis dahin üblichen ein bis zwei Fernseh- und Radiosendern und der Tageszeitung. Viel mehr Textspalten und Sendezeit gab es nun zu füllen. Da aber selbstverständlich nicht plötzlich viel mehr passierte als zuvor, wurde nun auch über Ereignisse berichtet, die zuvor keinerlei Meldung wert gewesen wären. Und um gegen die Konkurrenz der anderen Medien bestehen zu können, musste schließlich auch ganz Alltägliches zur Story oder gar zum Drama erhoben werden.

Klar, dass dieses Schicksal auch die überfrierende Nässe früher oder später ereilen musste, um aus der früher kaum nennenswerten Wettererscheinung endgültig Breaking News zu machen. Ein unbekannter Journalist hat Mitte der 90er Jahre die bahnbrechende Idee: Blitzeis lautet der neue Begriff, der alsbald die Headlines sowie die Dramaturgie der Nachrichtensprecher beherrschte. Ein wunderbares Wort, drückt es doch in Analogie zum Blitzkrieg die maßlose und unberechenbare Bedrohung aus, die für unsere Zivilisation bei unter null Grad von Wasser ausgeht und gegen die es mit allen Mitteln zu kämpfen gilt.

Betrachtet man die Verwendung des Wortes in den letzten Jahren, dann erkennt man jedoch sofort, dass hier durchaus noch Wachstumspotenzial vorhanden ist. Gleichzeitig wird aber auch bewusst, dass mit dem Blitzeis das Ende der etymologischen Fahnenstange noch nicht erreicht sein kann. Wir News-Konsumenten warten also geduldig auf auf den Blitzeis-Terror, das Horror-Eis, die Diktatur des Winters und die Niederschlags-Tyrannei. Oder gab es diese Wetterphänomene in der wunderbaren Welt der Medien gar schon? Verwundern würde es den geneigten Leser nur wenig.
 

Die in diesem Artikel verlinkten Grafiken befinden sich im Neologismen-Wörterbuch des Online-Wortschatz-Informationssystems des Instituts für Deutsche Sprache. Eine wunderbare Fundgrube für das Stöbern in den neuzeitlichen Niederungen der deutschen Sprache!