Männig

Der Waggon im Weizenfeld

Seit einigen Wochen trifft man zwischen der Münchner Vorortgemeinde Vaterstetten und ihrem Ortsteil Baldham auf einen alten Güterwaggon – inmitten eines Weizenfeldes. Die Gleise, auf denen der Waggon inmitten der Schotterebene im Münchner Osten ruht, sind freilich kaum länger als das Fahrzeug selbst, und weitere Bahnanlagen sucht man in der weiteren Umgebung vergebens. Bereits seit 2006 fand man an der gleichen Stelle ein kurzes Gleisstück und eine kleine Gedenktafel zwischen der Gemeindeverbindungsstraße und dem begleitenden Fuß- und Radweg vor, was jedoch nur von wenigen Passanten wirklich wahrgenommen wurde. Was ist hier geschehen? Welchen Sinn hat dieses hier so fremd wirkende Monument?

In den Jahren 1944 und 1945 wurde an dieser Stelle tatsächlich eine Eisenbahnlinie errichtet. Obwohl diese Zeit noch nicht einmal 70 Jahre zurück liegt, ist es nicht ganz einfach, Informationen über den Bau und über den Verlauf der damaligen Strecke zu finden. Sichere Informationen mischen sich mit zahlreichen Legenden, die sich im Laufe der Jahrzehnte entwickelt haben. So streiten sich heute die Geister, ob die Bahnlinie an dieser Stelle überhaupt jemals in Betrieb ging oder auch nur fertig gestellt wurde. Auf der anderen Seite erzählt man sich mit bedeutungsschwerem Unterton, auf den dort gebauten Gleisen sei bei Kriegsende sogar der Führerzug abgestellt gewesen. So oder so: An diese eigenartige Episode der jüngeren Geschichte soll der alte Güterwaggon zwischen Baldham und Vaterstetten erinnern. Die Geschichte der vergessenen Bahnstrecke beginnt jedoch schon einige Jahre vor ihrem eigentlichen Bau. Nachdem München im Jahr 1935 offiziell zur nationalsozialistischen Hauptstadt der Bewegung geworden ist, soll die bayerische Metropole im Sinne der braunen Machthaber repräsentativ umgestaltet werden. Neben einer prägenden, aufmarschgeeigneten Zentralachse ist ein über 200 Meter hohes Denkmal für den Hitlerputsch von 1923 ein weiteres, tragendes Gestaltungselement der Planungen. Nachdem das Monument genau am Platz des Hauptbahnhofs errichtet werden soll, muss dieser natürlich weichen. Ein Ersatzbau für die geplante, großdeutsche Breitspurbahn, die unter anderem auch Paris mit Moskau verbinden soll, wird unter einer gewaltigen Kuppel im Bereich des Laimer Bahnhofs geplant.

Um die entsprechenden Bauarbeiten vorzubereiten, will man zunächst den gesamten Güterverkehr aus der Münchner Innenstadt eliminieren. Der Eisenbahn-Nordring existiert bereits seit 1909, doch nun soll diese Umgehungsstrecke für Gütertransporte auch an die Fernbahngleise in Richtung Westen und Osten angeschlossen werden. Zu diesem Zweck verlängert man den Nordring 1938 bis zur Bahnstrecke nach Augsburg und weiter südlich bis zu den Richtung Buchloe führenden Gleisen. In östlicher Richtung wird die so genannte Feldkirchner Tangente errichtet, die den Nordring mit der Bahnstrecke nach Mühldorf verbindet. Ein pompöser Umbau entsprechend nationalsozialistischen Idealplanungen bleibt München freilich dennoch erspart. Im Jahr 1939 beginnt der Zweite Weltkrieg, und mit fortschreitendem Kriegsverlauf haben die Stadt und nicht zuletzt ihre zentralen Bahnanlagen immer mehr unter den Bombardements der Alliierten zu leiden. Die weitgehend intakte Feldkirchner Tangente gewinnt in dieser Zeit dennoch zunehmend an Bedeutung, können doch die Züge auf ihr relativ reibungslos verkehren, was auf den immer wieder zerstörten Gleisen in der Münchner Innenstadt kaum mehr möglich ist.

Gleichzeitig stellt man aber mehr und mehr fest, dass eine weitere, strategisch wichtige Bahnverbindung nach wie vor fehlt: Eine Gleisstrecke vom Münchner Nordring nämlich zu den Schienen, die München in ostsüdöstlicher Richtung verlassen und die nach Rosenheim und weiter nach Salzburg führen. Im Sommer 1944, als der Kriegsverlauf für Nazideutschland eigentlich schon hoffnungslos erscheinen muss, wird dieses Infrastrukturprojekt dennoch angegangen. Da alle potentiellen Arbeitskräfte schon längst an die Front geschickt wurden, werden niederländische Kriegsgefangene verpflichtet, eine Bahnverbindung zwischen Feldkirchen und Zorneding zu bauen. Material wie Arbeitskraft sind jedoch knapp, und so errichtet man keine klassischen Bahndämme, sondern trägt schlicht den Mutterboden ab. Auf den darunter liegenden, natürlichen Schotterboden, eine regionale Hinterlassenschaft der letzten Eiszeiten, legt man die erforderlichen Schwellen und Gleise. Die Zwangsarbeiter müssen unter menschenunwürdigen Verhältnissen in Güterwaggons hausen, und als die etwa neun Kilometer lange Bahnstrecke im Mai 1945 fertiggestellt ist, endet schließlich glücklicherweise auch der Zweite Weltkrieg. In einen regulären Betrieb geht die Bahnverbindung nicht mehr.

Bei Kriegsende wird die Strecke von den amerikanischen Besatzern noch dokumentiert, schon bald nach Kriegsende werden jedoch die Gleisanlagen demontiert. Man hat wohl an anderer Stelle dringendere Verwendung für Schwellen und Schienen, und außerdem sind die örtlichen Bauern nicht gerade traurig darüber, ihr requiriertes Ackerland schnell wieder verfüllen und nutzen zu können. Aus diesem Grund ist der Verlauf der nur kurze Zeit existierenden Bahnstrecke zwischen Zorneding und Feldkirchen heute, nur wenige Jahrzehnte später, in der freien Landschaft kaum mehr zu erkennen. Lediglich im Bereich der Waldkolonie Pöring deuten Oberflächenschotter und Wegverläufe noch auf ihren einstigen Trassenführung hin. Einer örtlichen Initiative um die Eisenbahnfreunde Vaterstetten ist es zu verdanken, dass der jetzt so seltsam in der freien Landschaft stehende Güterwaggon an diese merkwürdige Episode deutscher Eisenbahngeschichte erinnert. Wer auf den Spuren der Bahngeschichte wandeln will, tut sich allerdings weiter im Norden, entlang der ehemaligen Feldkirchner Tangente, leichter. Auf dem 7,7 Kilometer langen Streckenast wurden zwar die Gleisanlagen ebenfalls schon bald nach dem Kriegsende abgebaut, doch kann man die heute zumeist unter Naturschutz stehenden Geländeeinschnitte und Bahndämme fast durchgängig auf schmalen Pfaden erwandern. Ein infrastruktur-archäologischer Ausflug, der sich lohnt!

Quellen und Tipps zum Weiterlesen: