Kettenbriefe. Man kennt sie bereits aus den eigenen Kindertagen. Mal galt es, an soundso viele andere Kinder eine Postkarte zu schicken, mal schöne Briefmarken, und schließlich wurde sogar gefordert, Geld in die Umschläge zu stecken, was dann – sofern man den Kettenbrief auch wie verlangt an eine bestimmte Anzahl anderer Empfänger weitergeleitet hatte – in eigenem, sagenhaftem Reichtum resultieren sollte. Stets wurde dazu angehalten, die Kette ja nicht zu unterbrechen, teilweise sogar mit obskurem Unheil gedroht, sofern man es doch erwägen sollte. Klar, dass dies auch stets mit entsprechenden, drastischen Fallbeispielen untermauert wurde.

Mit dem Fortschritt der Computer- und Kommunikationstechnik hat sich die wunderbare Welt der Kettenbriefe weitgehend auf E-Mail und ins Internet verlagert. Und wer auch als Erwachsener noch glaubt, dass das Schneeball- oder Pyramidensystem der Kettenbriefe Erfolg und Reichtum verheißt, der versucht sein Glück im Netzwerk- oder Multi-Level-Marketing, auch Strukturvertrieb genannt. Merke: Wer dir heute als Erfolgs-Coach im Internet PDF-Guides anbietet, die zu Glück und Wohlstand führen sollen, bei dem lohnt sich fast immer auch die Frage, ob er nicht noch ein paar Paletten Amway-, Tupperware- oder Herbalife-Produkte in der Garage hat, die er günstig abgeben möchte.

Doch auch vor der Krone der Schöpfung, der Blogosphäre, haben die Kettenbriefe nicht Halt gemacht. Hier nennt sich der Kettenbrief Blogstöckchen oder schlicht Stöckchen und soll sein Füllhorn in Form eines besseren Schuchmaschinen-Rankings dank zahlreicher Verlinkungen zur Up- und Downline der Kettenbriefgläubigen über den teilnehmenden Blogs ausschütten. Inhaltlich sollen die Blogger meist eine Reihe mehr oder weniger sinnvoller Fragen beantworten und dann eine vorgegebene Zahl weiterer Blogbetreiber zum Mitmachen anhalten. Und da die Zahl der aktiven deutschsprachigen Blogs schließlich doch recht überschaubar ist, schreckt man bisweilen auch nicht davor zurück, so ein Stöckchen jemandem an den Kopf zu werfen, der sich nicht ums Verrecken als Blogger bezeichnen würde, ja dies sogar als Schimpfwort empfände.

Mir zum Beispiel. Ausgerechnet der geschätzte, webtechnisch multiaktive Frank Stephan wirft mir so einen Brocken hin. Fünf Fragen gilt es zu beantworten, und an fünf weitere Opfer sind wiederum fünf Fragen zu richten, die man sich ausdenken soll. Fünf weitere Opfer? Moment mal, wenn das funktioniert, müsste doch die deutsche Blogosphäre schon nach wenigen Runden abgegrast sein. Betrachten wir doch einmal, wie viele Teilnehmer dieser Kettenbrief in jeder Runde seiner Historie haben müsste:

Runde 1: 1
Runde 2: 5
Runde 3: 25
Runde 4: 125
Runde 5: 625
Runde 6: 3.125
Runde 7: 15.625
Runde 8: 78.125
Runde 9: 390.625
Runde 10: 1.953.125
Runde 11: 9.765.625
Runde 12: 48.828.125
Runde 13: 244.140.625
Runde 14: 1.220.703.125
Runde 15: 6.103.515.625

Richtiger wäre es natürlich, zu berechnen, wie viele Teilnehmer bis zu einer bestimmten Runde insgesamt an diesem Stöckchen teilgenommen haben. Hierzu zählt man einfach die Teilnehmer der vorherigen Runden zu denen jeder Runde hinzu. So ergeben sich folgende aufaddierte Teilnehmerzahlen:

Runde 1: 1
Runde 2: 6
Runde 3: 31
Runde 4: 156
Runde 5: 781
Runde 6: 3.906
Runde 7: 19.531
Runde 8: 97.656
Runde 9: 488.281
Runde 10: 2.441.406
Runde 11: 12.207.031
Runde 12: 61.035.156
Runde 13: 305.175.781
Runde 14: 1.525.878.906
Runde 15: 7.629.394.531

Unsere eifrigen, Stöckchen werfenden Blogger haben also nach sieben Runden die vermutlich gesamte deutschsprachige Blogosphäre, weit vor Abschluss der 13. die gesamte deutsche Bevölkerung und in Runde 15 schließlich locker die Weltbevölkerung erfasst. Geht man davon aus, dass selbst ein Blogger in der Lage ist, fünf einfache Fragen innerhalb von drei Tagen zu beantworten, so haben nach spätestens 45 Tagen alle Erdbewohner brav ihrer Stöckchenpflicht Folge geleistet.

Dass dem in der Realität nicht so ist, das beginnt man zu vermuten, wenn man die Blogeinträge, die dieses Stöckchen weitergetragen haben, zurückverfolgt. Innerhalb weniger Minuten kann man sich nämlich leicht 20 Runden in diesem Kettenbrief der modernen Art in die Vergangenheit klicken. 20 Runden? Dann müsste unser Stöckchen ja eigentlich extraterrestrischer Herkunft sein – oder zumindest von jedem Erdenbürger bereits mehrfach beantwortet. Investiert man ein paar weitere Minuten und zählt, wie viele der zur Teilnahme Aufgerufenen tatsächlich mitgemacht haben, so wird die Sache schnell klarer: Lediglich 1,8 der angesprochenen fünf Personen kommen nämlich im Durchschnitt der Aufforderung nach, die Fragen brav zu beantworten und ihrerseits einen Stöckchen-Eintrag im eigenen Blog zu veröffentlichen. Fast zwei Drittel verweigern also die Teilnahme, lediglich 36 % verlängern willig die Kette.

Diese Rechnung hat freilich einen entscheidenden Fehler: Bei der rein linearen Rückverfolgung der Teilnehmer tauchen diejenigen natürlich nicht auf, derem Stöckchen-Aufruf überhaupt niemand Folge leisten wollte. Logisch eigentlich, denn wenn man nach den Eltern einer Person sucht, dann wird man ebenso selten Kinderlose als solche vorfinden. Falls jemand über die kriminelle Energie verfügt, auch noch die toten Äste in den einzelnen Runden auszuwerten, nur zu! Bis dahin würde ich aufgrund der statistischen Verteilung der Mitmacher-Zahlen auf die einzelnen Blogeinträge (Gaußsche Glocke, wir erinnern uns) vermuten, dass bereinigt etwa 25 Prozent der zur Teilnahme aufgeforderten tatsächlich das Stöckchen fortführen. Dies wären also im Schnitt 1,25 Teilnehmer, die von den angesprochenen fünf in jedem Blogeintrag der Aufforderung Folge leisten. Realistischer sehen unsere aufaddierten und gerundeten Teilnehmerzahlen also wie folgt aus:

Runde 1: 1
Runde 2: 2
Runde 3: 4
Runde 4: 6
Runde 5: 8
Runde 6: 11
Runde 7: 15
Runde 8: 20
Runde 9: 26
Runde 10: 33
Runde 11: 43
Runde 12: 54
Runde 13: 69
Runde 14: 87
Runde 15: 110

Die Weltbevölkerung wäre entsprechend dieser Rechnung erst nach 128 Runden oder einem guten Jahr, die gesamte, grobgeschätzte deutsche Bloggeria in Runde 69 oder nach sieben Monaten abgegrast. Da allerdings bislang weder alle Blogger deutscher Zunge, geschweige denn sämtliche Weltbürger brav ihre fünf Fragen beantwortet haben, ist davon auszugehen, dass selbst unsere hypothetisch hergeleitete Zahl von 75 Prozent Stöckchenverweigerern noch hoffnungslos zu tief gegriffen ist.

Was lernen wir daraus? Wer bei Kettenbriefen, gleich ob per Post, per E-Mail oder im Internet, nicht mitmachen mag, befindet sich nicht nur in guter Gesellschaft, sondern darf sich auch als Teil einer vernünftigen Mehrheit sehen. Was die Teilnahme oder Nichtteilnahme bei einer Stöckchenaktion für die Qualität des eigenen Blogs bedeutet, das mag jeder für sich selbst entscheiden. Und vielleicht verstehen jetzt einige der Coaches und SEO-Experten, die hier regelmäßig Kommentarspam abzuliefern versuchen, wie es zu den vielen Kartons mit Strukturvertriebsware kommen konnte, wegen denen sie ihr Leasingauto noch heute vor der Garage parken müssen.

Und dir, lieber Frank, erzähle ich alles, was du über mich wissen willst, gern so bald wie möglich bei einem Bier. Oder bei drei. Oder vier.