Männig

Sankt Martin

Der Martinstag ist auch wieder so ein Tag, an dem man sich freuen kann, in den weniger behüteten Sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts seine Kindheitstage verbracht zu haben. Aufgewachsen in einem Landstrich, der 500 Jahre zum Kurfürstentum Mainz gehörte und der entsprechend katholisch geprägt war, ist mir die Tradition der Sankt-Martins-Umzüge wohl bekannt. Aus meiner eigenen, mit etwas über einem Jahr recht überschaubaren Kindergartenzeit erinnere ich mich daran, dass man mit Laterne und der Ermahnung, sich mit dieser keinen Heuschobern zu nähern, aus dem elterlichen Haus geschoben wurde. Es folgte ein kleiner Umzug der Fünf- bis Sechsjährigen unter Anleitung von Tante Helga, wie die Erzieherin ganz offiziell genannt werden wollte. Nachdem etwa die Hälfte der mitgeführten Papier-Lampions vollständig in Flammen aufgegangen und die beiden eigens einstudierten Lieder abgesungen waren, trollte man sich in immer kleiner werdenden Kinderhorden wieder nach Hause, um das Abendessen nicht zu verpassen.

Wie anders sieht da doch die gleiche Veranstaltung im Jahr 2012 aus. Fast 300 Menschen haben sich vor dem Kindergarten der Vorortgemeinde im Speckgürtel der großen Stadt versammelt. Kinder sind darunter zunächst kaum auszumachen, aber schließlich aufgrund der mühsam emporgereckten Laternen doch vereinzelt zu finden. Begleitet wird jeder der Kindergartenzöglinge im Schnitt von zwei Elternteilen, weiterhin von vier zum Teil von weither angereisten Großeltern und bisweilen noch von ein bis zwei Geschwistern. Daneben hat sich das Kindergartenteam aus Erzieherinnen, Kinderpflegerinnen und einigen Hilfskräften an strategisch günstigen Stellen postiert.

Kaum ist die Dämmerung hereingebrochen, geht er auch schon los, der merkwürdige Zug, bei dem fast jeder Achte ein laternenbewehrter Teilnehmer ist. Um jeden einzelnen davon hat sich ein undurchdringlich wirkender Ring von mehr oder weniger Erziehungsberechtigten gebildet, die auch sogleich ihrer primären Aufgabe, der Erziehung, in Form mannigfaltiger Anweisungen an den kindlichen Hauptdarsteller ihres jeweiligen Grüppchens nachkommen. Halt die Laterne nicht so niedrig!, ermahnt beispielsweise der Opa zum richtigen Sankt-Martins-Verhalten, Schneller, damit wir den Anschluss nicht verlieren!, ruft die Kindsmutter, und der Vater weist seinen Sprössling an, den Lampion ruhiger zu halten, damit die eigens angeschaffte, batteriebetriebene LED-Leuchteinheit mit Farbwechsel-Effekt nicht zu Schaden kommt.

Und über der ganzen Szenerie blinkt das fahle Blau der Rundumkennleuchten der Polizeifahrzeuge, mit denen die Einsatzkräfte die kahle Straße zwischen Bahnlinie, Parkplatz und verfallenden Industriegebäuden, in der die Gemeinde vor wenigen Jahren auch den schallemissionstechnisch kritischen Kindergarten angesiedelt hat, eigens für die Veranstaltung abgeriegelt haben. Die verzweifelten Versuche des pädagogischen Fachpersonals, doch einmal ein Lied anzustimmen, werden durch das omnipräsente Quäken der Funksprechgeräte der uniformierten Mitglieder der freiwilligen Feuerwehr, die für einen geregelten Ablauf der Veranstaltung sorgen sollen, um ein Vielfaches übertönt. Eine gelassene Ruhe strahlen lediglich die Mitglieder des Bereitschaftsdienstes des Roten Kreuzes aus, die sich mit Rettungsfahrzeug und Notfallkoffer an zentraler Stelle postiert haben.

So zieht sie nun zweimal die Straße auf und ab (Bitte außen um die Leitkegel laufen, nicht in der Kehre abkürzen!, ruft der Feuerwehrmann in sein Megafon), diese merkwürdige Prozession, in der vereinzelt von konzentriert dreinblickenden Fünf- bis Sechsjährigen emporgehaltene Laternen aus der Masse der eifrig ihre lieben Kleinen coachenden Erwachsenen herausblitzen. Aber dann geht die Veranstaltung glücklicherweise auch schon ihrem viel zu lange erwarteten Höhepunkt entgegen. In langen Reihen stellen sich die volljährigen Anwesenden am Glühweinstand an, und nach dem zweiten oder dritten Becher wird die Stimmung auch schon etwas gelöster. Natürlich nicht bei den Kindern, denn die haben schon vor längerer Zeit zu frieren begonnen, keine Lust mehr, auf die Laterne aufzupassen und ohnehin die Spielekonsole zuhause vergessen, was aber auch nichts helfen würde, weil das WLAN des Kindergartens nicht bis hinaus auf die Straße reicht.

Freilich, sie ist gut betreut, die Generation unserer zukünftigen Rentenlastträger. Aber irgendwie bin ich in solchen Momenten doch ganz froh, meine eigenen Kindheit schon seit einigen Jahrzehnten hinter mir zu haben.