Männig

Dramatisiertes Rauschen

Die Informationsgesellschaft. Ein Begriff, der in den achtziger Jahren als optimistische Perspektive formuliert wurde, ist dreißig Jahre später zur ganz alltäglichen Realität geworden. Das Internet hat es möglich gemacht, auf Unmengen von Informationen, die vorher eher im Verborgenen geschlummert hatten, jederzeit und von überall her zuzugreifen. Gleichzeitig ist durch das Internet aber auch ein neuer Kanal für die Veröffentlichung von Informationen entstanden, der für jedermann zugänglich und erschwinglich ist. Die Folge: Informationen werden nicht nur einmal und auch nicht in nur einigen wenigen Publikationen wie in der Print-Ära veröffentlicht. Vielmehr werden nun Neuigkeiten und für lesenswert Gehaltenes von der Generation Posterous in Blogs und Onlinemedien in Copy-und-Paste-Verfahren bis ins Unendliche repetiert. Die Tugend des Verlinkens ist in Vergessenheit geraten.

Natürlich stumpft die Aufmerksamkeit des Lesers ab, wenn er auch im zehnten, von ihm konsumierten Blog einen Artikel zum gleichen aktuellen Trend- oder Hype-Thema findet wie bereits in neun anderen zuvor. Um in diesem Rauschen der immer unrelevanteren Informationsmasse dennoch die Aufmerksamkeit des Lesers zu fesseln, greifen die Blogbetreiber mehr und mehr zu bunten Bildern, die das Netz ebenfalls in schier unendlicher Zahl zur Verfügung zu stellt. Ob Flickr-Bilder oder Videos von YouTube oder Vimeo: Farbe und Entertainment warten nur darauf, in Webseiten eingebunden zu werden, die an sich selbst die primäre Anforderung des ständigen Nachschubs von Meldungen und Einträgen stellen.

In den letzten Monaten scheinen allerdings Infografiken die Welt der Blogs und der Onlinepresse geradezu inflationär zu überwuchern. Das Rezept ist einfach: Man nehme einige leicht zugreifbare, statistische Werte und gestalte daraus eine möglichst unterhaltsame Grafik. Dabei gilt: Die Relevanz der zugrunde liegenden Daten ist weitgehend nebensächlich. Wie die Leser es ja schon aus der bunten Welt des Fernsehens gewöhnt sind, geht es in erster Linie um den Unterhaltungswert der bunten Bilder. Die weit überwiegenden Mehrheit betrachtet die so visualisierten Zahlen zwar begeistert, versteht oder gar hinterfragt sie jedoch offenbar nur selten. Damit zeigt sie ein Verhalten, das sie bei den beliebten PowerPoint-Präsentationen im täglichen Geschäftsleben schon vielfach trainiert hat.

Und so freut sich der Blogleser also über Infografiken zu afrikanischen Fußballtröten, Barcodes, das harte Leben von Social-Media-Managern oder schlicht und selbstreferenziell zum den Wert von Infografiken. Eines haben all diese Meisterwerke engagierter Computergrafiker gemein: Die Tatsache nämlich, dass der Inhalt der großflächigen Prunkstücke mit einigen Worten, wenigen Sätzen oder einer Tabelle einfacher, schneller und weit datensparsamer auszudrücken und zu verstehen gewesen wäre. Gleichzeitig fällt auf, dass die zugrunde liegenden Informationen für über 90 % der Leser der Blogs und Webseiten, auf denen diese Prunkstücke veröffentlicht wurden, in der Regel völlig unrelevant sein dürften. Die Infografik als Dramatisierung des Informationsrauschens.

Dabei hatte alles so schön angefangen. Bereits im Jahr 1861 schuf Charles Joseph Minard seine berühmte grafische Darstellung der Verluste auf Napoleons Russlandfeldzug, mit der er bis heute gültig zeigte, wie hilfreich und aussagekräftig Infografiken wirklich sein können. Hundert Jahre später ging der Trend allerdings bereits zum dekorativen Ausgestalten eher simplerer Informationen. Die Tageszeitungen der Nachkriegszeit hatten dringenden Bedarf für die Auflockerung ihrer Bleiwüsten, der in den fünfziger und sechziger Jahren mit den beliebten Werken des Globus Kartendienstes gedeckt wurde.

Hinzu kam um 1970 der Trend der Visualisierung auch einfacherer Sachverhalte. International wollte man sein, und so bot es sich an, über Sprachgrenzen hinweg verständliche Bilder an der Stelle von Worten zu verwenden. Herausragend und unvergessen sind Otl Aichers Piktogramme für die Olympischen Spiele in München. Auch Autoherstellern kam dieser Trend gelegen. Statt der früher üblichen Beschriftung von Schaltern im Fahrzeugcockpit sollten nun sprachunabhängige Symbole deren Funktionen verdeutlichen. Mit den grafischen Benutzeroberflächen von Computersystemen traten schließlich die dort Icons genannten Piktogramme endgültig ihren Siegeszug in den Alltag an.

Doch funktionieren Bilder tatsächlich besser als Worte? Die Bedeutung von Icons und Piktogrammen muss in den meisten Fällen erst einmal erlernt werden, während kurze und prägnante Textelemente sofort verständlich sind. Die Bedeutung visueller Symbole kann in unterschliedlichen Kulturräumen verschieden sein. Eine Übersetzung in der Form unterschiedlicher grafischer Darstellungen für unterschiedliche Märkte kann damit durchaus erforderlich werden. Piktogramme unterliegen außerdem oft einem schnelleren Alterungsprozess als einfache Worte. Bekanntestes Beispiel hierfür ist das Diskettensymbol, das auch heute noch in vielen Programmen für die Funktion Datei speichern steht, in einer Zeit, in dem kaum mehr ein Computer mit einem Diskettenlaufwerk ausgestattet ist.

Eine ganze Reihe von Studien, so schreibt Jef Raskin in seinem Buch The Humane Interface, haben gezeigt, dass Icons von der Mehrzahl der Testpersonen schwerer verstanden wurden als einfache Textelemente. In einer Zeit, in der die Bildschirme von Computersystemen in die Breite wachsen, steht horizontaler Raum für Textlabel reichlich zur Verfügung, während die Höhe noch leicht klickbarer Icons die wertvolle Vertikaldimension aktiver Fenster reduziert. Texte sind, auch wenn sie Funktionen in Computerprogrammen beschreiben, individuell groß oder klein darstellbar, während Icons in der Regel nur in wenigen, fixen Größen vorliegen. Nicht zuletzt ist es in den meisten Fällen weit einfacher, die richtigen Worte zu finden als eine funktionierende, für jeden verständliche Grafik zu entwickeln.

Doch offenbar fehlt in der Meinung der Informationsanbieter ganz einfach der Entertainmentaspekt, wenn Informationen einfach in verständlichen Worten ausgedrückt werden. Und so versuchen wir mühsam, die kryptischen Bildchen auf dem Scheibenwischerhebel im Auto zu deuten, obwohl doch eigentlich alles ganz einfach wäre. Herausragende, emotional sofort verständliche Interfaces wie das der Braun-Funkwecker aus den achtziger Jahren kommen völlig ohne Icons aus und zeigen dem Menschen mit einfachen Worten ganz exakt, wie er die gewünschte Aktion ausführen kann.

Doch zurück zu den Infografiken, die Blogs und Webseiten überschwemmen. Da gibt es Motive, die eher der abstrakten Kunst zu entstammen scheinen, konfuse Sampling-Arien, die in der letzten Zeile schließlich doch noch offenbaren, um was es geht, Meisterleistungen, bei denen die grafischen Elemente keinerlei Bezug mehr zu den Zahlen haben und wunderbare Farbspiele, deren tieferer Sinn völlig im Verborgenen bleibt. Und schließlich hat auch das bewegte Bild Einzug gehalten. Das nervöse Gezappel der Prezi-Präsentationen fokussiert die Aufmerksamkeit des Betrachters auf die Übergänge zwischen den Informationsblocks statt auf die Informationen selbst. Und wem das noch nicht genügt, der unterhält mit hektisch geschnittenen Videoproduktionen, simpelste Inhalte mit allerlei Effekten in quälende Länge zu ziehen.

Letztlich fragt man sich, warum denn in so vielen Fällen Icons, Bilder und Infografiken verwendet werden, statt einfach ausdrucksstarke Worte und Zahlen sprechen zu lassen. Ist es einfach die Freude am Spielen mit den zahlreichen Visualisierungstools? Nachdem sogar ein deutsches Selbstdarsteller-Blog, das jedem Trend nacheilt, diesen Hilfsmitteln einen eigenen Eintrag gewidmet hat, liegt die Befürchtung nahe, dass die grafische Dekoration des inhaltlich Sinnlosen inzwischen als neue Karrieresportart begriffen wird. Und bis Menschen es lernen, mit Sprache umzugehen, präzise und aussagekräftig zu formulieren, müssen wir wohl damit leben, dass selbst völlig inhaltsleere Infografiken tausendfach geklickt und freudig weitergereicht werden.

Infografiken sind ganz unbestreitbar auf dem Vormarsch. Und vielleicht müssen wir ja darauf gefasst sein, dass kommende Generationen Märchen völlig anders erzählen, als wir dies bislang gewöhnt waren. Wer dabei immer außen vor bleibt, sind freilich die Menschen, die beim Lesen im Internet auf Screenreader angewiesen sind. Ein älteres, aber dennoch nach wie vor recht populäres Buch beginnt mit dem Satz Im Anfang war das Wort. Vielleicht wäre es oft auch heute noch sinnvoll, sich der Kraft und der Möglichkeiten von Worten zu besinnen und den Umgang damit zu üben.