Männig

Alles vernetzt?

Das Thema Nummer eins der letzten Wochen: Die industrialisierte Landwirtschaft. Wo früher kleine, bäuerliche Betriebe das Bild prägten, dominieren heute landwirtschaftliche Großbetriebe die Landschaft. Die Generalisten, die Getreide, Gemüse sowie Futterpflanzen anbauten und einige Schweine und Rinder hielten, sind längst hochspezialisierten Agrarunternehmen gewichen. Natürlich bedeutet diese Spezialisierung, beispielsweise auf Rindermast oder Geflügelhaltung, dass auch das Gros der Futtermittel für die Tiere nicht mehr durch die Zucht- und Mastbetriebe selbst erzeugt wird. Das Futter wird vielmehr beim einschlägigen Landhandel oder einer Genossenschaft eingekauft, die es ihrerseits vom Großhandel oder Hersteller bezogen haben.

Und die Hersteller erzeugen das, was eine möglichst effiziente Aufzucht der Tiere oder das bestmögliche Legeverhalten gewährleistet: Functional Food für Zuchttiere. Für die Produktion kaufen die Produzenten die unterschiedlichsten Rohstoffe ein, aus denen die Futtermittel aufbereitet und gemischt werden. Die Rohstoffe kommen aus verschiedenen Quellen und von verschiedenen Anbietern, die sie ihrerseits selbst erzeugt oder anderswo eingekauft haben. Das Futtermittel hat so, zumindest in Bestandteilen, viele Stationen durchlaufen und ist oft über mehrere Kontinente gereist, bis es schließlich in einem landwirtschaftlichen Betrieb ankommt und verfüttert wird. Und das ist erst der Anfang: Schlachthof, Großmetzgerei, Groß- und Einzelhandel, sowie viele Lkw-Kilometer sind weitere Stationen, die durchlaufen werden, bevor schließlich eine Scheibe Wurst auf dem Teller des Konsumenten liegt oder das Frühstücksei geköpft wird.

Ein hoch vernetztes System mit zahlreichen Mitspielern. Kein Wunder, dass sich in diesem System auch hin und wieder Fehler und unerwünschte Zwischenfälle einschleichen. Wie in den letzten Monaten, als in einem Unternehmen dieser Produktionskette offenbar statt Pflanzenfetten, die für die Tierfutterproduktion geeignet gewesen wären, solche aus der Schmier- und Treibstoffproduktion ins Futter gemischt wurden. Diese Fette waren jedoch mit Dioxinen verseucht. Zwar ist es gängige und allgemein akzeptierte Praxis, dass solche Gifte per Verbrennung in Motoren in die Atemluft gelangen und auf diese Weise durch die Lunge entsorgt werden, in Fleisch und Eiern, die ihren Weg durch den Magen nehmen, möchte man sie jedoch, so die allgemeine Auffassung, nicht haben. Entsprechend groß war das Entsetzen in den Medien und der Bevölkerung über diesen Vorfall, gefolgt vom Aktionismus der politisch Verantwortlichen. Die Landwirtschaftsminister des Bundes und der Länder präsentierten schließlich einen 14 Punkte umfassenden Plan, der zukünftig eine schadstofffreie Herstellung und Verarbeitung von Futtermittelfetten gewährleisten soll. Kern des Plans ist eine weit intensivere Involvierung der Behörden des Bundes und der Länder in jede einzelne Phase der Herstellung und Weiterverwendung der Fette als bisher.

Diesen gewaltig gestiegenen Verwaltungsaufwand wird der Bürger zu zahlen haben: Zum einen als Käufer der Endprodukte wie Fleisch, Wurst und Eier, weil die durch Behördengebühren gestiegenen Produktionskosten an ihn weitergegeben werden. Zum anderen aber natürlich auch als Steuerzahler, weil sicherlich nicht alle Kosten der aufgeblähten Behörden an die überwachten Betriebe weiterbelastet werden können. Zu mächtig ist die Agrarlobby, als dass die Politik ihr mehr als ein gewisses Maß an Zusatzkosten aufbürden könnte. Der spektakulär über die Medien präsentierte 14-Punkte-Plan greift bei genauer Betrachtung allerdings nur an einem winzigen Segment des intensiv vernetzten Systems der Agrarproduktion an, nämlich genau bei der Herstellung und Verwendung von Futtermittelfetten. Alle weiteren Bestandteile von Futtermitteln oder gar andere Stufen der vielschichtigen und in die unterschiedlichsten Unternehmen und Regionen verteilten Fleisch- und Eierproduktion wurden – bewusst oder unbewusst – nicht angegangen. Geschätzte zwei Prozent der Fertigungskette sollen nun mit gewaltigem Behördenaufwand abgesichert werden, die potenziellen Fehlerquellen in den anderen 98 Prozent bleiben aber zunächst unberührt.

Und ganz und gar vermieden haben es die Politiker, das hoch vernetzte landwirtschaftliche Produktionssystem überhaupt in Frage zu stellen. Dabei hatten die flacheren Erzeugungshierarchien und kürzeren Erzeugungsketten früherer Jahre durchaus ihre Vorteile: Ein Bauer, der seine Futtermittel selbst erzeugte, sorgte in der Regel auch dafür, dass die Tiere bestmöglich ernährt wurden. Der regionale Schlachter und Metzger achtete ebenfalls auf Qualität, um sich seine Kunden, die Konsumenten des Endprodukts, zu erhalten. Und das gesamte System der landwirtschaftlichen Produktion spielte sich im Umkreis weniger Kilometer ab. Dies ermöglichte den effizientesten aller Kontrollmechanismen: Die soziale Kontrolle durch alle Beteiligten des Systems selbst. Keinerlei Erfordernis eines aufgeblähten Behördenapparats, zugegebenermaßen aber auch keine -zig Stufen einer Erzeugungskette, die zugunsten ihrer Shareholder einen Mehrwert generierten.

Das hoch vernetzte System – Maß aller Dinge?

Fällt der Begriff der Vernetzung, so denkt der Mitteleuropäer des beginnenden 21. Jahrhunderts zunächst einmal an die Vernetzung von Computern. Als diese in den 1980er Jahren in der Masse der Büros Einzug hielt, verwendete man für die Verkabelung zunächst Koaxialkabel. Schon wenige Jahre später kristallisierte sich mit den Ethernetkabeln nach der Norm TIA-568A/B ein neuer Standard heraus. Kilometerweise wurden fast neue Kabel herausgerissen und durch die neuen Patchkabel ersetzt. Netzwerkkarten, Bridges und Router, die nicht die RJ-45-Buchsen nach neuer Norm besaßen, mussten ebenfalls ausgetauscht werden. Alles in Allem eine Aktion, die der Computerbranche weltweit Milliardenumsätze bescherte, die die Anwendern aber Unmengen an Geld, Zeit und Ärger kostete. Und schon wenige Jahre später begann bereits die Vernetzung per Wireless LAN – mit stetig wechselnden Übertragungsstandards und daher fortlaufendem Upgrade-Bedarf.

Das hoch vernetzte System – Die günstigste Lösung?

Die moderne Medizin. Zwischen Allgemein- und Fachärzten, Kliniken, Krankenkassen, Therapeuten, Dienstleistern und natürlich dem Patienten wird heute Vernetzung gefordert, um Gesundheitsleistungen bestmöglich und effizient zur Verfügung zu stellen. Die Branchen der Medizin- und Informationstechnik haben sich auf diesen stark anwachsenden Markt eingestellt und bringen zahllose Produkte und Dienstleistungen in immer schneller werdenden Zyklen an den Markt: Elektronische Gesundheits- und Patientenakten, telemedizinische Geräte und Kommunikationssysteme. All diesen Innovationen ist gemein, dass sie eine Vielzahl von neuen Playern ins Spiel bringen. Player, durch deren Hände die sensiblen Gesundheitsdaten der Patienten und Versicherten gehen und die freilich für ihre Leistungen entlohnt werden wollen. Das alte System der engen Verbindung von Arzt und Patient ist einem hochintegrierten Netzwerk von Gesundheitsspezialisten und -unternehmen gewichen. Ein Netzwerk, das nicht nur wesentlich teurer ist als das vorherige Modell, sondern dass auch ständig neue Datenschutzproblematiken offenbart.

Das hoch vernetzte System – Ein System zum Vorteil aller?

Schon seit über 100 Jahren kommt der Strom aus der Steckdose. Früher allerdings kam er meist ganz aus der Nähe. Mühlen ersetzten ihre alten Mühlräder durch schnelllaufende Turbinen und Generatoren, noch bevor große Kraftwerke den Markt dominierten. Kleine Elektrizitätswerke versorgten ihren regionalen Markt. Noch bis in die sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts gab es deshalb neben den immer mehr Bedeutung erlangenden 220-Volt-Hausnetzen auch Regionen, in denen die Häuser der Endabnehmer noch mit einer Stromspannung von 110 Volt versorgt wurden. Heute ist Europa überspannt von einem gewaltigen Stromnetz, das fast alle Regionen vollständig umfasst. Es wird von einem Oligopol weniger Konzerne kontrolliert, das Preise und Leistungen vorgibt. Und auch bis in die privaten Haushalte soll nun die weitere Vernetzung Einzug halten.

Smart Grid ist das Zauberwort, dass Anbietern und Verteilern die bestmögliche Planung und Distribution der Stromkapazitäten verheißt. Den Kunden werden durch Smart Grid Einsparungspotenziale durch die Kontrollmöglichkeiten ihrer Verbrauchswerte in Echtzeit versprochen. Voraus geht jedoch zunächst eine hohe Investition für die teure Mess- und Übertragungstechnik. Und erste Erfahrungen zeigen bereits jetzt: Mögliche Ersparnisse werden schon durch den Eigenverbrauch des Zählers und Modems im Dauerbetrieb weitgehend wieder aufgezehrt. Ob es im Datenschutzinteresse des Kunden ist, dass der Stromlieferant auf dem Wege der Verbrauchsdaten sehr detaillierte Informationen über seinen Tagesablauf erhält, muss sicherlich jeder für sich selbst entscheiden. Letztlich scheinen jedoch die Vorteile des neuen, vernetzten Systems fast ausnahmslos auf der Seite der Stromversorger zu liegen.

Das hoch vernetzte System – Ein echter Vorteil für den Verbraucher?

Stets hat sich in den letzten Jahrzehnten gezeigt, dass die Vernetzung bestehender Systeme fast ausnahmslos von Industrie und Lieferanten forciert wird, die davon profitieren. Überdies handelt es sich bei den Vernetzungsstandards oft um proprietäre Lösungen, die nur bei einem Unternehmen oder einer Gruppe von Anbietern bezogen werden können. Der Kunde macht sich von bestimmtem Lieferanten abhängig und ist nicht mehr frei in seinen Kaufentscheidungen, sobald er sich einmal auf ein bestimmtes System der Vernetzung eingelassen hat. Oft hat ein integriertes System nur die funktionelle Haltbarkeit seines kurzlebigsten Bestandteils. Selbst die Anschaffung eines neuen Mobiltelefons setzt heute meist den Kauf einer teuren, neuen Schnittstelle voraus, um es wie seinen Vorgänger in der Freisprecheinrichtung des eigenen Autos verwenden zu können. Und um beim Handy-Beispiel zu bleiben: Portable Bluetooth-Headsets mögen zunächst komfortabel erscheinen, erweisen sich aber immer wieder als wenig robust, kurzlebig, stromfressend und nicht unbedingt mit jedem Telefon verträglich – vom hohen Anschaffungspreis einmal ganz abgesehen.

Die Vernetzung der Systeme hat Einzug gehalten in fast alle Lebensbereiche. Wenn wir dem Marketing der Anbieter glauben wollen, geht es heute nicht mehr ohne intelligente Haustechnik, twitternde Autos und Kühlschränke, die ihren Inhalt selbst bestellen sollen, ja, das Internet der Dinge. Aber alle diese Vernetzungen schaffen für den Besitzer dieser Segnungen neben dem zunächst gefühlten Komfortgewinn zunächst einmal Abhängigkeiten und eigenen Kontrollverlust. Und das Komfortgefühl verliert sich oft schnell, wenn teure Reparaturen oder gar Neuanschaffungen fällig werden, weil das Versagen eines einzigen Moduls eines hochintegrierten Geräts letztlich zu dessen Komplettausfall führt.

Ist es an der Zeit, zur Entnetzung, Dezentralisierung und Selbstbestimmung der Käufer aufzurufen? Oder werden einfache, robuste Geräte und Lösungen, die nichts anderes tun, als unauffällig ihren Dienst zu versehen und leicht reparierbar sind, in Zukunft nur noch bei Konsumverweigerern und gesellschaftlichen Randgruppen anzutreffen sein?

(Bild von Fir0002/Flagstaffotos, Lizenz GFDL 1.2)