Männig

Die Ästhetik des Widerstands

Die Unternehmen haben aufgerüstet: Wo früher der Name des Inhabers und vielleicht noch das Familienwappen genügte, prägt heute ein ausgeklügeltes Corporate Design das Erscheinungsbild eines Unternehmens. Styleguides, die auch einmal mehrere hundert Seiten umfassen können, legen Logos, Farben, Schrifttypen, Layouts und deren Verwendung in jeder Einzelheit fest. Umso interessanter ist es, das Corporate Design einer Organisation zu betrachten, die über keine zentrale Marketingabteilung verfügt, die sich anarchisch organisiert, die sogar per Definition gar keine Organisation ist und daher quasi ausschließlich aus Trittbrettfahrern besteht.

Anonymous wird von der deutschen Wikipedia als Kollektiv bezeichnet, vom amerikanischen Pendant als group und als anarchic, digitized global brain. Dennoch fehlen offenbar jegliche zentrale Organisationsstrukturen. Zu Anonymous gehört, wer sich als zugehörig bezeichnet, für Anonymous spricht oder publiziert, wer sich dazu berufen fühlt und über die erforderlichen Fähigkeiten und Mittel verfügt. Nur bei relativ wenigen Aktionen kamen bislang Menschen in überschaubarer Zahl unter dem Rahmenbegriff Anonymous in der real world zusammen. Die Mehrheit der Aktivitäten findet dagegen dezentral im Netz statt. Einige Quellen verwenden daher auch eher den Neologismus Internet-Mem als zentralen Begriff, wenn sie Anonymous beschreiben.

Bei derart losen Verbindungen zwischen einzelnen Individuen erstaunt die Stringenz des öffentlichen Auftretens von Anonymous. Dabei fallen mehrere Gestaltungselemente auf, die stets wieder Verwendung finden:

Name

Der Name Anonymous entstammt der frühen Zeit ab 2003, als sich Nutzer des Imageboards und Forums 4chan erstmals als eine Art subversiver Gemeinschaft sehen. Zahlreiche User der Plattform posten anonym. Da in diesem Fall statt eines Namens das Wort Anonymous beim entsprechenden Posting angezeigt wird, ist damit der Überbegriff für gemeinsame Aktionen, die bald auch über die Grenzen der Plattform hinaus gehen, bereits gefunden.

Maske

Eine der ersten Aktionen, bei denen Anonymous-Mitglieder außerhalb des Internets auftreten, sind die Proteste gegen die Scientology-Organisation im Januar 2008. Die Teilnehmer tragen dabei Masken, die dem Film V wie Vendetta entstammen. In der Comic-Verfilmung der Gebrüder Wachowski, bekannt durch die Matrix-Trilogie, trägt der Held, der gegen einen autoritären Staat kämpft, eine derartige Maske. Das Gesicht auf dieser Maske stellt Guy Fawkes dar, einen britischen Offizier, der im Jahr 1605 erfolglos ein Attentat auf den Monarchen und das Parlament des Königreichs versuchte und der dafür hingerichtet wurde.

Slogan

Mit der Scientology-Aktion im Jahr 2008 wird auch erstmals ein Slogan verwendet. Dieser findet sich beispielsweise im Abbinder eines an die Sekte gerichteten Videos:

Knowledge is free.
We are Anonymous.
We are legion.
We do not forgive.
We do not forget.
Expect us.

Interessant ist, dass in einer deutschen Version des Videos die Passage We are Legion etwas holprig mit Wir sind die Legion statt mit Wir sind zahllos/viele übersetzt wird. Dieser Slogan findet seither immer wieder Verwendung, oft in moderaten Abwandlungen oder mit Ergänzungen, die sich dem jeweiligen Aktionsthema anpassen.

Video

Publikationen, die im Namen von Anonymous erfolgen, bedienen sich vorzugsweise des Mediums Video. Unter dem Stichwort Anonymous finden sich allein auf der Google-eigenen Plattform YouTube Hunderte von Clips und Spots. Die meisten davon übermitteln interessanterweise vornehmlich textbasierte Botschaften. Offenbar wählt man jedoch vorzugsweise deshalb die Videoform, weil man sich auf diesem Weg eine bessere Verteilung durch die vielbeschworenen viralen Effekte erhofft.

Sprache

In veröffentlichten Videos werden die Texte zu eingeblendeten Textelementen oder zu Lauftext auch vorgelesen. Dabei bedient man sich fast durchgängig einer Art monotoner Computerstimme. Diese wird entweder durch die Verwendung einer Text-to-Speech-Software oder durch die Verfremdung einer menschlichen Stimme erzeugt.

Das seit einiger Zeit in verschiedenen Variationen auftauchende Logo stellt eine Figur mit schwarzem Anzug mit weißem Hemd und schwarzer Krawatte dar. Dem Wesen fehlt allerdings – symbolisch für die führerlose Struktur von Anonymous – der Kopf. Oft ist dieses Kernstück noch mit weiteren Elementen versehen, beispielsweise mit einer stilisierten Erdkugel und Olivenzweigen nach Art der Flagge der Vereinten Nationen. An der Stelle des fehlenden Kopfes befindet sich häufig ein Fragezeichen.

Weitere Gestaltungselemente

Offenbar bedient man sich seitens der Anonymous-Fans mit besonderer Vorliebe der Gestaltungselemente und Bildwelten aus Filmen der bereits zuvor genannten Wachowski-Brüder. Die grünen, von oben nach unten über den Bildschirm fließenden Lettern auf dunklem Grund sind dabei ein stets wiederkehrendes Motiv. Tauchen dann noch Guy-Fawkes-Masken auf, dann könnte man bisweilen fast den Eindruck gewinnen, das es sich bei Anonymous eigentlich um geschicktes Viralmarketing für die Wachowskischen Filme handelt. Daneben tauchen auch immer wieder relativ aufwändig produzierte Videoanimationen auf, die jedoch offenbar immer wieder von Laien neu kopiert und zusammengeschnitten werden, so dass deren Qualität im Laufe der Zeit immer stärker leidet. Diese Tatsache scheint aber von den Machern eher als Gestaltungsmerkmal empfunden zu werden. Gern werden nämlich auch die für alte, beschädigte Analogfilm-Kopien typischen Laufstreifen in die computerproduzierten Videos eingebaut.

Insgesamt lehnt sich das visuelle Erscheinungsbild von Anonymous stark an Sehgewohnheiten aus Video- und Computerspielen an. Dabei wird stets versucht, Stärke, Größe und Mächtigkeit zu vermitteln. Dies dürfte jedoch, sofern überhaupt, ausschließlich bei jüngeren Zielgruppen gelingen, die sich mit derlei Bildwelten identifizieren können und die diesen eine ausreichende Glaubwürdigkeit zugestehen. Ältere Personen neigen dagegen eher dazu, das Design von Anonymous mit einer Kombination aus Theater- und Computerprojekt einer technisch begabten Jugendgruppe zu assoziieren. Richtig ernst genommen werden die showlastigen Clips und Key Visuals von dieser Gruppe vermutlich weniger.

Dennoch: Es erstaunt, wie konsequent die einzelnen Gestaltungsmodule trotz vermutlich vielfältiger Autoren und Produzenten immer wieder verwendet werden. Sie führen so trotz einer gewissen Variabilität der Bandbreite zu einem sehr schlüssigen und wiedererkennbaren Erscheinungsbild. Dieses Erscheinungsbild trägt auch maßgeblich zur Popularität von Anonymous und zur Weiterverbreitung der Botschaften bei. Erst durch eindeutige Schlüsselbilder wird eine schwer greifbare, internetbasierte Organisation wie Anonymous in den Medien visuell vermittelbar und damit zum Nachrichtenthema. Durch die Medienpräsenz werden weitere junge Menschen aufmerksam, die sich selbst wiederum zum Sympathisanten, Mitglied oder Sprachrohr von Anonymous erklären und selbst geschaffene Botschaften unter diesem Namen veröffentlichen.

Die gesellschaftliche oder politische Wirkung, insbesondere außerhalb des Netzes, bleibt dabei freilich im Dunkel der Anonymität sowie durch De-facto-Einzelkämpfertum oder bestenfalls kleine, regionale Gruppen äußerst gering. Ohne die Multiplikatorenwirkung der klassischen Massenmedien hätte wohl kaum eine per YouTube angesprochene Polizeibehörde oder Staatsanwaltschaft die an sie gerichtete Botschaft je wahrgenommen. Umso mehr fokussiert sich das Interesse auf das Corporate Design von Anonymous. Ob wirklich durch politisch geprägte Internetaktivisten initiiert oder ob professionell als virales Marketing für Filmproduktionen eingefädelt: Trotz äußerst loser anfänglicher Vorgaben ist das von vielen Individuen bearbeitete Erscheinungsbild von Anonymous bereits über Jahre hinweg konsequent fortgesetzt und weiterentwickelt worden.

Dazu bedarf es offenbar keiner Styleguides oder anderweitiger, verbindlicher Gestaltungsvorgaben. Die Prinzipien der Heraldik, in der ein Bildschaffender relativ einfache Gestaltungselemente jeweils frei interpretieren kann, scheinen also auch im modernen Marketing zu funktionieren. Trotz immer neuer Auslegungen des Themas durch verschiedenste Akteure bleibt dennoch stets ein schlüssiges und klar wiedererkennbares Erscheinungsbild. Eine interessante Erkenntnis, die unter Markentechnikern durchaus zur Einsicht führen könnte, die Zügel etwas lockerer zu lassen und einer Marke mehr Freiraum zu ihrer eigenen, dynamischen Entwicklung zu geben.